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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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Ziehen, Theodor: Über den gegenwärtigen Stand der experimentellen Ästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0027

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ÜBER DEN GEGENWÄRTIGEN STAND D. EXPERIMENTELLEN ÄSTHETIK. 21

an dritter Stelle genannten Schwierigkeit abfinden, dem Fehlen eines'
Maßes des Ästhetischen. Und doch fällt auch diese Schwierigkeit
sehr ins Gewicht. Jede experimentelle Untersuchung wird wenig-
stens versuchen müssen, die untersuchten Vorgänge auch quantitativ
zu studieren. Die Tatsache, daß bestimmte mathematische Verhältnisse
der Objekte (Formverhältnisse, Verhältnisse der Schwingungszahlen
der Töne) ästhetisch besonders wirksam sind, kommt hier natürlich
nicht in Frage, sondern ein Maß des ästhetischen Wohlgefallens selbst,
wie es im Subjekt entsteht. Schon Fechner1) hat sich bemüht, ein
solches Maß zu finden, und zwar glaubte er, da er ein intensives Maß
des ästhetischen Wohlgefallens zu ermitteln für unmöglich hielt, ein
extensives an seine Stelle setzen zu dürfen. Er legte die ästhetischen
Untersuchungsobjekte einer bestimmten Zahl von Versuchspersonen
vor und stellte fest, wieviel Vorzugsurteile auf das einzelne Objekt
fallen. Das »statistische« Maß Fechners hat sich insofern bewährt,
als es uns in vielen Fällen gestattet, eine gleichartige Reihe ästhetischer
Objekte auf Grund der Abstimmungen einer bestimmten Zahl von
Versuchspersonen nach dem Grad des ästhetischen Wohlgefallens in
einer Reihe zu ordnen, die für diese Personen und für diese Objekte
eine ästhetische Skala darstellt. Ein Maß des ästhetischen Wohl-
gefallens ist damit jedoch nicht gewonnen. Ganz abgesehen nämlich
davon, daß solche statistischen Durchschnitte allen Wert verlieren, wenn
die einzelnen Individuen von dem Durchschnitt weit abweichen, und
daß das Ergebnis in hohem Maß von der willkürlichen Auswahl der
Versuchspersonen2) abhängt, kann selbst die einwandfreieste Abstim-
mung kein ästhetisches Maß ergeben, da die Verschiedenheit des Lust-
grad es der abstimmenden Personen ganz unberücksichtigt bleibt3).
Die Abstimmung muß geradezu — auch abgesehen von sonstigen
Ungleichheiten der abstimmenden Individuen — ein falsches ästhe-
tisches Maß ergeben, da alle Stimmen gleich gezählt werden, obwohl
sie sicher ein sehr verschiedenes Maß der ästhetischen Lust vertreten.
Eher könnte man daran denken, daß auf einem anderen Weg, und
zwar nach Analogie der freilich auch sehr umstrittenen Konstruktion

a) Vgl. namentlich Abh. d. math.-phys. Kl. d. Kgl. sächs. Ges. d. Wiss. Bd. IX,
Nr. 6, 1871, S. 598 ff.

2) Fechner wollte z. B. namentlich die sogenannten »Gebildeten« berücksich-
tigen. Es liegt auf der Hand, daß damit ganz willkürlich und noch dazu äußerst
unbestimmt ein einseitiger Kreis von Versuchspersonen zum Träger des ästhetischen
Maßes gemacht wird. — Besonders unbrauchbar ist auch das Verfahren der Frage-
bogen, zu deren Beantwortung sich ein ganz einseitiger Personenkreis, noch dazu
in der Regel in ganz unkontrollierbarer Weise, zusammenzufinden pflegt.

s) Fechner hat übrigens diese Fehlerquelle seines extensiven Maßes selbst be-
merkt und in etwas sophistischer Weise zu eliminieren versucht (1. c. S. 599 Anm.).
 
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