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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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Schmarsow, August: Raumgestaltung als Wesen der architektonischen Schöpfung
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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0073

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RAUMGESTALTUNG ALS WESEN D. ARCHITEKTONISCHEN SCHÖPFUNG. 67

Solange das Kunstwerk der Hervorbringung durch die Tastorgane
des Menschen als die Werkzeuge seines Willens bedarf, muß auch
dieser Sinnesbereich die notwendigsten Beiträge liefern, nicht aber kann
ein bevorzugtes Organ, das schließlich ermöglichen mag, uns weit von
der Berührung der Dinge zurückzuziehen, das Entscheidende oder gar
das allein Maßgebende sein, wo es sich so ausschließlich vorerst um
einen Verkehr auf Druck und Stoß handelt. Der ganze Organismus,
soweit er bei der tätigen Berührung mit dem gestaltbaren Material be-
teiligt ist, muß als mitwirkend anerkannt werden, und es bleibt die
Frage offen, wie weit der volle Bewegungsapparat und der sonstige
Bestand unseres Körpers die konstitutiven Merkmale des Kunstwerkes
als Menschenwerk bestimme, lange vor dem ersten Versuch eines rein
optischen Verhaltens, besonders bei ruhiger Schau des sogenannten
»Fernbildes«. Und die Antwort, die sich ergibt, werden wir anerkennen,
ohne jede Voreingenommenheit für die ästhetische Alleinherrschaft eines
einzelnen Sinnes, und sei er von noch unzweifelhafterer Unfehlbarkeit,
als unser Auge in Anspruch nehmen darf.

Von solcher Überzeugung aus soll hier die architektonische Raum-
gestaltung in ihren Grundlagen untersucht werden, und es versteht
sich bei der Kürze der vorgeschriebenen Zeit von selbst, daß wir uns
auf das Wichtigste beschränken.

1.

Die Auseinandersetzung des Menschen mit dem brauchbaren Ma-
terial beginnt in seinem Raumgebilde sicher vom eigenen Leibe aus,
schon deshalb, weil seine natürlichen Werkzeuge, die Gliedmaßen
selber, bei jeder Gestaltung des vorhandenen Stoffes einzugreifen
haben. Die Raumform bleibt also zunächst in engstem Zusammen-
hang mit ihrem lebendigen Urheber und seinem eigentümlichen Körper-
bau. D. h. die gegebene Einheit, von der alles ausgeht, ist das mensch-
liche Knochengerüst mit seiner charakteristischen Unterordnung zweier
Horizontalausdehnungen — nach vorn und hinten, nach rechts und
links — unter die Vertikalachse, als die größte und eigenste Dimension
dieses Grundstocks. Die aufrechte Haltung dieses Geschöpfes, im
Unterschied von anderen Lebewesen, und die ausgeprägte Vorderseite,
als Sitz aller nach außen gerichteten Beziehungen oder Betätigungen,
enthalten bereits den Keim der eigentümlichen Raumbildung. Die
Triebfeder zum Eingreifen in die vorhandene Umgebung, zum Ver-
schieben und Verstellen der Sachen, die von seiner Kraft bewältigt
werden können, und endlich zum Herstellen einer eigenen räumlichen
Umschließung liegt natürlich in der Möglichkeit freier Ortsveränderung
auf dem irdischen Schauplatz. Diese spontane Bewegung von einem


 
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