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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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Fischer, Otokar: Über den Anteil des künstlerischen Instinkts an literarhistorischer Forschung
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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0103

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ANTEIL KÜNSTLERISCHFN INSTINKTS AN LITERARHISTOR. FORSCHUNG. QJ

vielleicht auch über einen latenten Neid nicht hinwegzukommen ver-
mag. Psychologisch begreifen läßt sich jedenfalls die häufige, der An-
nahme einer treuen Waffenbrüderschaft von Forschung und Kunst
widersprechende Beobachtung einer Inkommensurabilität, einer Span-
nung, ja Feindseligkeit zwischen lebendiger Produktion und wissenschaft-
licher Literaturgeschichte, jene Beobachtung also, die so oft angestaunt
und als bedauernswert beklagt wird und sich z. B. im modernen Frank-
reich fast ständig wiederholt; eine lebende Dichtergeneration empfindet
es begreiflicherweise als Schnitt ins eigene Fleisch, wenn sie die
scharfen Seziermesser wetzen hört, die sich in das Innere teuerster
Toten einbohren, um demnächst auch das gegenwärtige Leben zu
anatomieren; die Gelehrten wiederum sehen gar leicht einen Eingriff
in ihre Rechte darin, wenn die stürmende Phalanx von Neuerern ein
mühsam aufgerichtetes und als geheiligt anerkanntes System einzurennen
droht.

Der Antagonismus von Forschung und Kunst wird nicht abgestumpft,
sondern verinnerlicht und eher zugespitzt dadurch, daß es kaum einen
völlig reinen Typus dieser oder jener Observanz gibt, daß es sich viel-
mehr in den meisten Fällen um Spielarten handelt, bei denen bald der
eine, bald der andere Faktor überwiegt; einmal trägt der Zeugungs-
drang über sachliche Beobachtung, ein zweites Mal die Liebe zur Ver-
gangenheit über das mystische Ahnungsvermögen den Sieg davon.
Kritik und Produktion, Wissenschaft und Kunst gehen immerwährende
Kompromisse ein, durchdringen einander in einem einzelnen Ingenium,
ja es gibt kaum einen Dichter mehr, der nicht zugleich Literarhistoriker
wäre. Abgesehen von der allgemeinen Bildung, der er sich heute
schwerer denn je entziehen kann — so daß die Möglichkeit eines wilden,
unberührten Naturgenies (wie ihn das achtzehnte Jahrhundert etwa in
Shakespeare verehrt wissen wollte) so gut wie ausgeschlossen ist —,
wird der Dichter zum Kritiker seines eigenen Werkes, sobald es sich
endgültig von seiner Seele losgerungen hat. Die viel erörterte Frage
nach dem Bewußten und Unbewußten im künstlerischen Schaffen tritt
in ein neues Stadium, da es gilt, ein in den Orundzügen bereits fertig-
gestelltes Ganzes mit einem anderen zu vergleichen, besonders da es
gilt, sein eigenes früheres Produkt einem neuen Organismus, sei es
ein Zyklus, eine Sammlung, ein Rahmen, einzuverleiben. Sich über die
einstigen Intentionen befragend, die Feinheiten der eigenen Form streng
nachprüfend, die Möglichkeiten eines Erfolges abwägend, wird der Ver-
fasser seinem Opus gegenüber zum Kunstrichter; kein Wunder, daß
sich die Bebauer der strengsten philologischen Methode, der Text-
kritik, nicht nur auf einen Dichterkritiker wie Lessing, sondern auch
auf Aussprüche und Bemühungen von impulsiven und kritikfeindlichen

Zeitschr. f. Ästhetik u. alljj. Kunstwissenschaft. IX- '
 
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