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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0119

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BESPRECHUNGEN. H3

verschiedener Arten, Zeiten und Länder. Denn es zeigt sich, daß gewisse Formen,
Maße, Proportionen und gesetzmäßige Anordnungen immer wieder hervortreten.
Daher sollte das vergleichende Studium der Kunstwerke, das bisher nur im stil-
kritischen Sinne betrieben wurde, geradezu der Kernpunkt aller ästhetischen Wissen-
schaft werden. Aber nicht nur durch Vergleich der Kunstwerke untereinander müßte
empirisch festgestellt werden, was Schönheit ist, sondern auch durch Gegenüber-
stellung von Kunstform und Naturgegenstand.

Man sieht bereits, worauf es Vernon Lee ankommt. Der Begriff des Ästheti-
schen ist ihr gleichbedeutend mit der Frage nach der schönen Form, und das Buch
trägt seinen Titel mit Recht: es handelt sich ausschließlich um Schönheit und Häß-
lichkeit als ästhetisches Grundproblem. Aber damit wird auch von vornherein
klar, wie außerordentlich der Begriff »ästhetisch« eingeengt wird. Die Frage nach
einem bestimmten ästhetischen Verhalten des Menschen im Gegensatz zum
praktischen oder wissenschaftlich gerichteten Verhalten taucht gar nicht auf. Das
Häßliche kann nicht Gegenstand einer ästhetischen Betrachtung sein. Schönheit
ist eine im betrachteten Kunstwerk objektiv gegebene Form, deren Apperzeption
den ästhetischen Eindruck ausmacht. Ein subjektives Moment kommt in diese so
dürftig anmutende Auffassung vom Wesen des Ästhetischen nur dadurch hinein,
daß Vernon Lee nun die Frage nach der Reaktion der schönen Form auf den Be-
trachter stellt. Warum bevorzugen wir gewisse Anordnungen von Linien, Farben,
Tönen vor anderen? Welche Bewußtseinsvorgänge und welche physiologischen
Prozesse begleiten das Gefallen an schönen und das Mißfallen an häßlichen Formen?
Das ist nun der Komplex von Fragen, dem die besonderen Arbeiten der Ver-
fasserinnen gewidmet sind und die den eigentlichen Inhalt des ganzen Buches aus-
machen. Aber zunächst wird noch eine andere Frage berührt, deren Erörterung
deshalb wichtig ist, weil daraus hervorgeht, wie der zu eng gefaßte Begriff des
Ästhetischen und die Verkennung des Grundproblems bei Vernon Lee zu inneren
Widersprüchen führen. Vernon Lee legt den größten Wert auf die Unterscheidung
von Form und dargestelltem Gegenstand, und nun ist es möglich — führt sie aus —,
daß eine bestimmte Form, d. h. eine bestimmte Anordnung von Linien, Flächen,
Farben uns »häßlich« anmutet, obwohl der dargestellte Gegenstand uns »schön«
anmutet oder umgekehrt. »Take a portrait, say by van Eyck or Reinbrandt. It may
strike us as ugly when we recognise it as the face of a human being, and endow it
with its associated peculiarities of disagreeable texture, poor health and bad temper
or sensuality. But it may at the same time strike us beautiful if we attend to its
intrinsic peculiarities as a visible form, the manner in which it fills up space, the
movement of lines and surfaces, the total harmony of its appearance.c- Dazu ist zu
sagen, daß es ein Kunstwerk, das zugleich schön und häßlich ist, nicht gibt. Die
Aussage bei Vernon Lee ist nur dadurch möglich, daß schön und häßlich auf zwei
ganz verschiedene Auffassungsakte bezogen werden. Häßlich erscheint das Gesicht
in dem Augenblick, wo wir es uns als lebendig wirklich denken ohne jeden Zu-
sammenhang mit dem Kunstwerk. Das andere Urteil »schön« bezieht sich auf das
Gesicht, insofern es durch die Tatsache der gemalten Darstellung die Möglichkeit
ästhetischer Betrachtung gewährt. Deswegen bleibt es doch in diesem Falle von
gleicher Häßlichkeit, und Vernon Lee gibt nur implicite zu, daß auch Häßliches
ästhetisches Gefallen erregen kann. Ästhetisch ist eben nicht gleichbedeutend mit
formal schön. Man versteht jetzt aber, warum Vernon Lee so großes Gewicht auf
die Gegenüberstellung: Form — Gegenstand legen muß. Denn es stellt sich her-
aus (besonders in den Galerietagebüchern ist es zu beobachten), daß alles, was
nur aus dem Wesen des Ästhetischen als eines prinzipiellen Verhaltens des Men-

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. IX. 8
 
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