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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0121

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BESPRECHUNGEN. H5

Lippsschen Einfühlungstheorie am nächsten kommt. Es sei aber gleich hier be-
merkt, daß sich in den Galerietagebüchern gelegentlich noch ganz andere An-
sichten verbergen. Manchmal kommt in diesen Tagebüchern mit ihrem großen
Reichtum an Selbstbeobachtungen eine Einsicht zum Vorschein, die keineswegs zu
der offiziell vorgetragenen Theorie paßt und die in erfreulicher Weise die engeren
theoretischen Fesseln zu sprengen sucht. Man vergleiche etwa die Bemerkungen
S. 341 oder was kurz vorher von dem Reiz der Neuheit als einer Förderung der
ästhetischen Empfänglichkeit gesagt wird. An anderer Stelle (S. 344) wird für eine
Theorie der Kunst die Einfühlungstheorie ausdrücklich abgelehnt.

Was nun jenen älteren Aufsatz -Beauty and Ugliness« im besonderen anlangt,
so bleibt dessen Neudruck in diesem Buche doch immer dankenswert. Schon als
prägnantes Beispiel für die Formauffassung des extrem motorischen Typus. Aber
ganz abgesehen davon enthält dieser Aufsatz eine Reihe ausgezeichneter Beob-
achtungen über Dinge der Kunst. Dahin rechne ich vor allem die Architektur-
betrachtung von Anstruther-Thomson, die bemerkenswerte Berührungspunkte mit
Schmarsows Auffassung vom Wesen der architektonischen Schöpfung zeigt (obwohl
gänzlich unabhängig voneinander). Auch in anderer Hinsicht bietet der Aufsatz
großes Interesse. C. Anstruther-Thomson darf doch wohl als ausgeprägte Er-
scheinung des motorischen Typus gelten, und ihr nähert sich Vernon Lee, wie es
ja auch die betreffende Notiz von Baerwald ausdrücklich bezeugt (S. 97). Von
dieser Tatsache aus läßt sich geradezu von einer Ästhetik des motorischen Typus
sprechen. Besondere Neigungen, besondere ästhetische Hemmungen treten auf,
die mir nur für den Motoriker charakteristisch erscheinen. Wenn Karl Oroos davon
spricht, daß die Motoriker einen intensiveren ästhetischen Genuß haben als solche,
denen jede körperliche Resonanz fehlt, so darf man das vielleicht für bestimmte
Fälle zugeben. Aber hinzugefügt muß werden, daß dem ästhetischen Erlebnis beim
motorischen Typus vermutlich engere Grenzen gezogen sind. Gerade die stärkere
körperliche Resonanz wirkt oftmals ungünstig auf die Möglichkeit ästhetischer Ein-
stellung hin. Das scheint mir fraglos aus zahlreichen Beobachtungen und Kund-
gebungen von Beauty and Ugliness (ich meine das ganze Buch) hervorzugehen. So
unterscheidet Vernon Lee ausdrücklich zwischen den motorischen Vorstellungen
und Muskelspannungen, »die durch den Anblick der Linien und Flächen, der bloßen
Formen, die in einem Kunstwerk enthalten sind oder aus denen es sich zusammen-
setzt, hervorgerufen werden«, und denen, die hervorgerufen werden »durch die innere
Verwirklichung einer Gebärde der Handlung, deren Vorstellung durch jene Linien
und Flächen, jene bloßen Formen in unserem Geiste, d. h. in der in uns aufge-
speicherten Erfahrung nahegelegt wird«. (Vgl. Ztschr. f. Ästh., V, S. 164 ff.) Der
erste Satz bezieht sich also auf die reine Formapperzeption ohne Rücksicht auf die
Beziehungen dieser Formen zum Gegenständlichen. Der zweite Satz bezieht sich
auf die »dramatische Nachahmung« der gegenständlichen Gebärde oder Handlung.
Diese beiden Apperzeptionsmöglichkeiten geraten wie bei Vernon Lee außerordent-
lich leicht in Konflikt. »Wir können in der Tat, wie es oft geschieht, in raschem
Wechsel bald an das Bild denken, das ein Gemälde oder eine Statue darbietet, und
bald an die Ansichten, die sich darbieten würden, wenn die darin angedeutete
Handlung oder Gebärde vollendet würde; aber es ist unmöglich, bei dem einen"
Prozeß zu verweilen, ohne den andern zu hemmen.« Die motorische Phantasie
spielt also dem Betrachter einen Streich, indem sie ihn durch die Gegenstands-
apperzeption aus dem ästhetischen Erlebnis hinausführt oder dieses wenigstens in
hohem Maße hemmt. Selbstbeobachtungen haben Vernon Lee überzeugt, »daß die
innere Verwirklichung der Handlung oder Gebärde des in einem Kunstwerk dar-
 
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