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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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Schering, Arnold: Zur Grundlegung der musikalischen Hermeneutik
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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0181

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ZUR GRUNDLEGUNG DER MUSIKALISCHEN HERMENEUTIK. 175

unsere gesamte Aufmerksamkeit dem Ausdruck, der Bewegung, den
mannigfachen musikalischen Spannungs- und Lösungskonflikten zu-
gewandt; was dagegen Takt für Takt an vertikalen Klangreizen
unser Ohr trifft, das kommt uns nur als Stimmung, als ein bunt
verschwommener seelischer Untergrund, als ein fortwährend be-
wegtes Meer von verschieden affizierenden Tonreizen zum Bewußt-
sein. Eine Musik, die impressionistisch wirken will, d. h. möglichst
wenig bestimmte Willensimpulse, aber sehr viel verschwommene
Stimmungseindrücke suggerieren will, wird daher möglichst scharfe
melodische Linien meiden und dafür das polyphon-harmonische
Element in Gestalt unzähliger durcheinander laufender obligater
Stimmen einseitig in den Vordergrund rücken. In solchen Fällen
ist dem Hermeneuten das Geschäft nicht nur erschwert, sondern
zuweilen gar unmöglich gemacht, und er wird die Feder nieder-
legen in dem Bewußtsein, daß seine Tätigkeit hier zwecklos wäre.
Aber auch anderswo wird es Eindrücke genug geben, die bei der
hermeneutischen Betrachtung zwar absichtlich in den Blickpunkt des
Bewußtseins gerückt wurden, aber beim wirklichen Erleben des Ton-
werks wieder in den Schoß des Unbewußten hinabgespült werden.
Diese Tatsache führt zu der Forderung: soll die hermeneutische Be-
trachtung an Verbindlichkeit und positivem Wert nicht einbüßen, so
muß das Recht des Unbewußten auch im Musikgenuß anerkannt und
die Grenze sorgfältig abgesteckt werden, innerhalb derer die Macht
des Unbewußten jede begriffliche Deutung aus dem Felde schlägt.
 
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