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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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Scholz, Wilhelm von: Das Schaffen des dramatischen Dichters
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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0183

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DAS SCHAFFEN DES DRAMATISCHEN DICHTERS. 177

einer noch frühen naturalistischen Schaffensstufe, des noch zu Stei-
gernden, der formenden Hand noch Knetbaren. Der Dramatiker sieht
überall die nur selten durchgeführten Ansätze und Versuche des Lebens
zu starken Menschen, großen Geschehnissen, zu unvermischten Ent-
wicklungen, zu tragischen oder komischen vielstufigen Skalen, an deren
Gipfel erst die ganz vollen tragischen und komischen Erregungen aus-
gelöst werden, deren unsere Seele fähig ist. Der Dramatiker sieht
alle diese Ansätze mit dem Auge der Phantasie, dessen Selbsttätigkeit
groß ist. Gewissermaßen: wie in einer wärmeren und fruchtbareren
Atmosphäre entwickeln sich im Geiste des Dramatikers die, im Räume
gebundenen, Charaktere und Geschehnisse rasch und frei immer bis
zu ihrer Idee, bis dahin, wo sie, auch als nur vorgestellt, ergreifen
und erschüttern. Die Folgen verkürzen sich, die Gegensätze rücken
härter aneinander, Raum und Zeit werden nur noch mit dem Puls der
Erregung empfunden und gemessen.

Dieser fortwährende, ich möchte sagen: latente Schaffenszustand
ist fruchtbar, aber zunächst nicht zeugend. In dem raschen Zug ein-
mal wieder vergessener, ein anderes Mal mit ein paar flüchtigen Zeilen
ins Tagebuch aufgezeichneter Vorstellungsreihen bildet sich der Ge-
staltungsstoff: szenische Motive, Charaktermotive, Menschentypen,
Schicksalslagen, Entschlüsse, Konflikte, Gefühle, Bilder, die dann dem
dichtenden Geist mit ihrer ganzen Fülle zu Gebote stehen, aus denen
dann die — seltenere — zeugende Erregung mit vollen Händen schon
vorbereitetes, im dramatischen Sinne: lebendiges Leben greift.

Ich vermag Ihnen über den Moment, in welchem der Einfall eines
großen zusammenhängenden Werkes in solchem vorbereiteten Lebens-
stoff zündet, nichts ganz Sicheres zu sagen. Es erscheint mir dieser
Moment nicht — was er aber, wie ich objektiv schließe, doch wohl
auch sehr stark sein muß — als ein subjektiv besonders fruchtbarer,
empfänglicher, sondern immer als eine besondere Schönheit, ein be-
sonderer Glanz und Reiz des Stoffes, der Fabel, die mir in Zeiten
solcher inneren Disposition begegnet.

Irgend ein Vorkommnis, das ich sehe, höre, lese, zufällig vielleicht
in einem Gespräch als vorgestellten Fall bilde, auch gelegentlich ein-
mal träume, gibt die erste Anregung, den Keimpunkt, die Kristalli-
sationsmitte, von der aus sich die Handlungsgestalt bildet. Ich will
versuchen, deutlich zu kennzeichnen, welche Eigenschaften eine solche
erste Anregung haben muß, um sich plötzlich nicht nur vor alle an-
deren, ihr wesensverwandten Anregungen, sondern auch vor die ganze
Alltagswirklichkeit zu drängen und den Dramatiker in sich als seine
jetzt eigentliche Wirklichkeit hineinzuziehen. Nebenmomente der ersten
Anregung mögen für mich früher der Reiz der Zeitfarbe, die Größe

Zeitschr. f. Ästhetik u. allj. Kunstwissenschaft. IX. 12
 
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