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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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Scholz, Wilhelm von: Das Schaffen des dramatischen Dichters
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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0185

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DAS SCHAFFEN DES DRAMATISCHEN DICHTERS. 179

statt, des Selbsterlebens, das vielleicht den jüngeren Dichter mehr die
Geste und die Weltanschauung aus der Gestalt, den reifenden ihre
Leidenschaft, ihren Konflikt und ihr Gefühl gegen das, in der Antithese
wähl verwandte, Schicksal annehmen läßt. Aus solcher ersten Anregung
bricht einen Moment lang dasselbe große Gefühl, das später, wenn
das Werk sich in die Raumwelt gedrängt hat, als letzter Klang in der
erregten Seele des Zuschauers nachhallt. Noch sei hinzugefügt, daß
der so in die Seele geschleuderte Stoff einen inneren Wirklichkeitsgrad
annimmt, welcher wesentlich stärker ist als die zahllosen gedachten
Begebnisse, die täglich durch unser Vorstellen gehen, und anderseits
reizvoller, lockender sich in ihn zu versenken, spielender, freier als
alle »äußere Wirklichkeit«. Er verdrängt in seinem Wachsen jedes
nicht ganz fundamentale äußere Lebensinteresse und nimmt in seinen
Geschehnissen, Bildern, Charakteren allmählich eine solche körperhafte
Deutlichkeit für Auge und Ohr, eine solche Stärke der Gefühle und
Leidenschaften an, daß er gegenständlich wird wie ein Halbtraum und
sich als Geschehen zur objektiven Wirklichkeit etwa verhält wie die
Aufführung einer Handlung zu dieser selben Handlung, wirklich ge-
dacht. Er wird vor der Vorstellung erlebt in einer Mischung von
geschehender Wirklichkeit mit Raumweite und von deutlichem Gespielt-
werden auf einer Bühne, von halbem Sein und ganzem Bedeuten.

Ich will versuchen, den Keimpunkt des Dramas an zwei Beispielen
darzustellen, die ich der Abrede gemäß aus meinen Arbeiten nehmen
muß. In meinem neuesten Drama, der »Gefährlichen Liebe«, zu dem
ich den Stoff in den »Liaisons dangereuses* des Choderlos de Laclos
fand, hat mich nicht das glänzende Milieu des Ancien regime zur Ge-
staltung gereizt, das freilich eine willkommene Beigabe war, sondern
allein dies: das Band zwischen einem Mann und einer Frau — Vicomte
von Valmont und Marquise von Merteuil — wird durch die Ebenbürtig-
keit der beiden an Kraft und Vitalität fester und fester, während gleich-
zeitig nach dem Verfliegen des ersten Gefühlsrausches ihre Gegensätze
und feindlichen Momente immer stärker hervortreten. Halb in der
Zeitsituation und ihrer unabhängigen Lebenslage, die sie nicht von-
einander weg und in andere Interessen zwingt, das Spiel der Leiden-
schaft vielmehr geradezu herauslockt, halb in der besonderen Artung
dieser Charaktere, in denen entgegengesetzte Gefühle sich nicht zu
trübem Grau mischen, sondern positiv wie negativ neben- und durch-
einander bestehen, liegt ein Schicksal, das hier in den Personen selbst
festgenistet ist, in den Forderungen, Verlockungen, Reizen und Feind-
schaften des Geschlechts, der Physis, welche nun die Charaktere in
den Konflikt reißt. Die Charaktere wurden mir in dieser gefährlichen
Verknotung sofort als Drama lebendig, und gleichzeitig fühlte ich in
 
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