DIE THEORIE DES TRAGISCHEN IM GRIECHISCHEN ALTERTUM. 209
von entlegeneren Gebieten, wie z. B. von der spanischen Renaissance,
sondern vielleicht noch mehr von dem scheinbar uns so vertrauten
und so wohl erforschten griechischen Altertum. Der moderne, ge-
schichtlich geschulte Philologe mag seinen Weg finden; aber jeder
Forscher, der mehr von außen her an die Dinge herantritt, zu denen
er doch von Amts wegen Stellung nehmen muß, ist Irrtümern ausge-
setzt, die aus der Stellung unserer Vorgänger zu der Kultur des klassi-
schen Altertums entspringen.
Vor allem hat' eine ungeschichtliche Beurteilung der Leistungen
der Alten (und besonders der Poetik des Aristoteles) der gerechten
Würdigung ihrer wahren Verdienste und ihrer oft grundlegenden Arbeit
lange Zeit geschadet, indem sie Verhimmelung auf der einen, blinden
Haß auf der anderen Seite erzeugte1).
I. Aristoteles, dem wir die erste eingehende und für die ganze
Folgezeit bedeutsame Erörterung der Gesetze des Tragischen verdanken,
gibt uns auch eine Fülle von Belehrung über die Entstehung und die
Entwicklung des attischen Dramas; seine Nachrichten haben die scharfe
Kritik der Geschichts- und Literaturforschung, neuerdings auch der
Religionswissenschaft herausgefordert, sind aber bis heute immer noch
die sicherste Grundlage eines wahren, geschichtlichen Verständnisses
der tragischen Dichtung der Alten geblieben. Ohne im einzelnen auf
die schwierigen Fragen nach dem letzten Ursprung der Tragödie ein-
zugehen, versuchen wir in großen Zügen jene Erscheinungen zu über-
blicken, an denen Aristoteles seine Beobachtungen gemacht hat und
deren kostbare Überreste der Folgezeit bisweilen ein noch tieferes
') Ich erinnere nur daran, wie Lessings unbedingte Wertschätzung der »Poetik«
seinen Todfeind Eugen Dühring zu geradezu lächerlichen Ausfällen gegen Aristoteles
herausgefordert hat. Dann aber nimmt man auch heute noch viel zu oft das klassische
Altertum als eine einheitliche Größe hin und sieht in dem großen Stagiriten etwa
den Vertreter der griechischen Kunstkritik überhaupt; und die (immer mit Aus-
schließung der Leute vom Fache!) weitverbreitete Unterschätzung des späteren Alter-
tums tut das ihre dazu, um jene Unter- und Nebenströmungen übersehen zu lassen,
ohne deren Kenntnis wir die Anfänge der moderneren Kritik in der Renaissance,
ja selbst die trübe Kunstlehre des Mittelalters nicht verstehen können. Hier sei
der Versuch gemacht, immer im stillschweigenden Hinblick auf die spätere Ent-
wicklung, die Grundlinien der Ästhetik des Tragischen im klassischen Altertum zu
ziehen. Nicht um die Theorie der Tragödie handelt es sich dabei, etwa um die
Lehre von den dramatischen Charakteren, vom Chor und dergleichen. Es soll nur
in großen Zügen gezeigt werden, wie die Alten über den »Grund des Vergnügens
an tragischen Gegenständen« gedacht haben. Freilich wird es da ohne gelegent-
liche Ausblicke auf den ästhetischen Stimmungswert der technischen Mittel nicht
abgehen, und ebenso werden wir bei der Dichtung selbst anfragen müssen, was
sie dem Menschengeiste dargeboten hat, ehe jemand daran dachte, sich theoretisch
mit dem tragischen Erlebnis zu beschäftigen.
Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. IX. 14
von entlegeneren Gebieten, wie z. B. von der spanischen Renaissance,
sondern vielleicht noch mehr von dem scheinbar uns so vertrauten
und so wohl erforschten griechischen Altertum. Der moderne, ge-
schichtlich geschulte Philologe mag seinen Weg finden; aber jeder
Forscher, der mehr von außen her an die Dinge herantritt, zu denen
er doch von Amts wegen Stellung nehmen muß, ist Irrtümern ausge-
setzt, die aus der Stellung unserer Vorgänger zu der Kultur des klassi-
schen Altertums entspringen.
Vor allem hat' eine ungeschichtliche Beurteilung der Leistungen
der Alten (und besonders der Poetik des Aristoteles) der gerechten
Würdigung ihrer wahren Verdienste und ihrer oft grundlegenden Arbeit
lange Zeit geschadet, indem sie Verhimmelung auf der einen, blinden
Haß auf der anderen Seite erzeugte1).
I. Aristoteles, dem wir die erste eingehende und für die ganze
Folgezeit bedeutsame Erörterung der Gesetze des Tragischen verdanken,
gibt uns auch eine Fülle von Belehrung über die Entstehung und die
Entwicklung des attischen Dramas; seine Nachrichten haben die scharfe
Kritik der Geschichts- und Literaturforschung, neuerdings auch der
Religionswissenschaft herausgefordert, sind aber bis heute immer noch
die sicherste Grundlage eines wahren, geschichtlichen Verständnisses
der tragischen Dichtung der Alten geblieben. Ohne im einzelnen auf
die schwierigen Fragen nach dem letzten Ursprung der Tragödie ein-
zugehen, versuchen wir in großen Zügen jene Erscheinungen zu über-
blicken, an denen Aristoteles seine Beobachtungen gemacht hat und
deren kostbare Überreste der Folgezeit bisweilen ein noch tieferes
') Ich erinnere nur daran, wie Lessings unbedingte Wertschätzung der »Poetik«
seinen Todfeind Eugen Dühring zu geradezu lächerlichen Ausfällen gegen Aristoteles
herausgefordert hat. Dann aber nimmt man auch heute noch viel zu oft das klassische
Altertum als eine einheitliche Größe hin und sieht in dem großen Stagiriten etwa
den Vertreter der griechischen Kunstkritik überhaupt; und die (immer mit Aus-
schließung der Leute vom Fache!) weitverbreitete Unterschätzung des späteren Alter-
tums tut das ihre dazu, um jene Unter- und Nebenströmungen übersehen zu lassen,
ohne deren Kenntnis wir die Anfänge der moderneren Kritik in der Renaissance,
ja selbst die trübe Kunstlehre des Mittelalters nicht verstehen können. Hier sei
der Versuch gemacht, immer im stillschweigenden Hinblick auf die spätere Ent-
wicklung, die Grundlinien der Ästhetik des Tragischen im klassischen Altertum zu
ziehen. Nicht um die Theorie der Tragödie handelt es sich dabei, etwa um die
Lehre von den dramatischen Charakteren, vom Chor und dergleichen. Es soll nur
in großen Zügen gezeigt werden, wie die Alten über den »Grund des Vergnügens
an tragischen Gegenständen« gedacht haben. Freilich wird es da ohne gelegent-
liche Ausblicke auf den ästhetischen Stimmungswert der technischen Mittel nicht
abgehen, und ebenso werden wir bei der Dichtung selbst anfragen müssen, was
sie dem Menschengeiste dargeboten hat, ehe jemand daran dachte, sich theoretisch
mit dem tragischen Erlebnis zu beschäftigen.
Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. IX. 14