Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

DOI Artikel:
Meyer, Richard M.: Der "Biographismus" in der Literaturgeschichte
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0259

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
BEMERKUNGEN. 253

ganz dem klassizistischen Forum zu überlassen; die Erfahrung eines Jahrtausends
eifriger Homerlektüre spricht freilich nicht dafür! Aber man sehe, zu welchen Ver-
renkungen des Verständnisses dieser beständige Ankampf gegen jede Kritik führt!
Wie unaufhörlich das Verlegenheitsroß der parodistischen oder burlesken Absicht
vorgeritten wird und am Ende der Dichter gleichzeitig der fromme Sänger einer
frommen Gesellschaft und der Blumauer der Antike sein soll, der sich zu »künstle-
rischen Zwecken« ein unaufhörliches Possenspiel mit den Götterfiguren bewußt
gestattet! Man sehe, wie jede sachliche Schwierigkeit mit dem »poetischen Gesetz«
wegerklärt wird: »daß beim Dichter nicht selten unmittelbare gedankliche Beziehungen
vorliegen, wo der Dichter es nicht für notwendig hält oder auch durch künstlerische
Erwägungen davon abgehalten wird, mit ausdrücklichen Worten darauf hinzuweisen:
der Dichter sagt nicht alles, was ihm im Sinne liegt!« (S. 101; unter-
strichen wie im Original). Wenn dies Gesetz nicht einfach die denkbar größte
Plattitüde ist, so ist es das bequemste Mittel, jede technisch oder psychologisch
unentbehrliche Erklärung zu beseitigen: es entsteht eine Interpretation, die sich
kürzer in die Worte fassen läßt, der Dichter habe dies so gewollt, weil er es so
gewollt habe. — Führt nun aber diese grundsätzliche Befreiung des Dichters von
jedem Zwange wirklich wenigstens zu einer ästhetisch befriedigenderen Einsicht?
Nein; über die Charakteristik des Diomedes, über die von Pandaros' Rede und
hundert andere Dinge sind schließlich die ästhetischen Kommentatoren in so vollem
Widerspruch, wie es die philologischen nur irgend konnten. Und sagt man nun:
der Erklärer muß eben selbst ein Dichter sein, und Drerup hat durch Mittei-
lung von eigenen Versen sich ausdrücklich als Nichtdichter bekannt, so daß in
schwierigen Fragen eben auf einen Kompetenteren gewartet werden muß, der mit
ihm das Prinzip teilt, aber nicht den Mangel an Stilgefühl — so ist zu erwidern,
daß trotz allem periodisch (z. B. eben wieder von Paul Ernst) erhobenen Wider-
spruch die Literarhistoriker immer noch im ganzen ein besseres Verständnis der
Dichter bewährt haben, als die Dichter — ausgenommen selbstverständlich auf der
einen Seite d i e Dichter, die Methode mit Instinkt vereinigten, wie Lessing, Goethe,
die Romantiker, und auf der anderen diejenigen, die ihnen besonders verwandte
Naturen charakterisierten, wie Eulenberg in den glücklichsten seiner »Schattenbilder«.
Aber ist es nicht bezeichnend, daß gerade dieser werte Freund der Poeten und
Gegner ihrer Richter auf seine Weise zum »Biographismus« zurückkehrt und seine
Goethe, Lenau, Hoffmann, um sie recht verständlich zu machen, in charakteristische
Lebensmomente ihrer wirklichen Existenz hineinstellt?

Wir wissen es alle, daß das klare Wasser der philologischen Methode durch
ungewaschene Hände oft, und manchmal auch durch schmierige Objekte unrein ge-
worden sein kann; aber deshalb gleich alles ausschütten? Nirgends herrscht so
wie in Deutschland das jedem unreifen Hochmut wohltuende Wort »überschätzt«!
Jeden Monat erhalte ich Programm oder Probeheft einer neuen Zeitschrift und un-
weigerlich beginnen sie nicht mit einem positiven Bekenntnis, sondern mit der Er-
klärung, Dehmel, oder Hauptmann, oder George, oder auch Goethe, oder auch
Shakespeare seien bei gewissen Verdiensten »unzweifelhaft überschätzt worden«.
Die Wissenschaft neigt dazu, diese Manier der ungeduldigen Jüngsten nachzuahmen,
die durch die alte Geschichte sich warnen lassen sollten, wie der Enkel von dem
Mantel für den unter der Treppe gebetteten Großvater ein Stück abschneidet, um
später den Vater damit zu bedecken... . Länder mit einiger Tradition verstehen es
nicht, wie eilig man bei uns bewährte Methoden aufgibt. »Es ist der größte Fehler
der deutschen Industrie,« sagte mir einmal ein amerikanischer Fabrikant, »daß sie
zu rasch neue Maschinen baut.« Kann man nicht verbessern statt zu verwerfen,
 
Annotationen