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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0276

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270 BESPRECHUNGEN.

gerade von innen gelangt man nicht zu A. v. Werner: er berichtet bloß. Seine
Form ist tot, leer, gleichgültig. Aber in den duftigen, zarten, hellen Farben eines
Watteau oder Fragonard, in der geistvollen Kultiviertheit ihrer Bildausschnitte und
Kompositionen, in der zärtlichen Verliebtheit ihrer Pinselführung, da lebt das
Rokoko. Jetzt galt es noch eine sehr schwere Aufgabe: die Tragweite des Indivi-
duums abzugrenzen gegenüber der allgemeinen Gesetzlichkeit des Stils, das Einzig-
artige des Kunstwerks im Verhältnis zu seiner Entwicklungsbindung. Und dabei
tasten wir noch vielfach im Dunkeln; hier bleibt methodisch noch das meiste unklar.
Aber auch die anderen — hier kurz aufgestellten — Gesichtspunkte bedürfen noch
mancher Sicherung und Durchleuchtung. In dieser Richtung müht sich die allge-
meine Kunstwissenschaft; aber auch die historischen Kunstdisziplinen greifen ein
und müssen eingreifen, denn sie liefern die praktische Probe: den Beweis für den
Ertragreichtum des Standpunktes, für seine Arbeitsfähigkeit im Dienste der
Forschung.

Diese allgemeine Einleitung war notwendig, um die prinzipielle Bedeutung der
beiden umfangreichen Werke zu kennzeichnen, die der Besprechung vorliegen. Beide
stellen sich bewußt in das neue Lager; Bulle etwas rechts mit der achtbaren Vor-
sicht des erprobten Forschers, Hausenstein ganz links mit dem stürmischen Elan
drängender Jugend. Weder der »schöne Mensch« Bulles noch der »nackte Mensch«
Hausensteins sollen Themen stoffgeschichtlicher Betrachtung sein, sondern die Form-
wandlungen werden untersucht, aber nicht nur in sich, sondern gerade in ihrer
Abhängigkeit von der »seelischen Verfassung« — wie Bulle sagt — der betreffen-
den Völker. Die ganze Anlage des Werkes von Bulle ist in diese Richtung ein-
gestellt: allgemeine Ausführungen leiten die einzelnen Abschnitte ein; sie schlagen
den Grundakkord an: das Leben erhebt sich, das Sinn und Wollen der Kunst be-
stimmt. Hierauf folgt die Durchführung der formalen Motive; so z. B. »der stehende
Mann«, die »angelehnte Figur«, die »bewegte Stellung«, die »bekleidete Frau«, die
»kurzbekleidete« und die »nackte Frau«, »sitzende« und »gelagerte« Gestalten, das
»Knieen und Kauern«, die »Kinder«, »unbärtige« und »bärtige Köpfe«, das »Relief«,
»Zeichnung und Malerei«. Den Schluß bilden »Nachweise und Nachträge«, die den
wissenschaftlichen Apparat enthalten. Selbstverständlich geht es bei dieser Be-
trachtungsart nicht ohne gelegentliche Vergewaltigungen; so berührt es doch eigen-
tümlich, wenn etwa die Laokoongruppe unter die bärtigen Köpfe eingereiht wird.
Aber derartige Mängel liegen im Wesen der Entwicklungszüge einzelner Form-
merkmale, die nicht breite Querschnitte geben, sondern einzelne Linien verfolgen
ohne Rücksicht darauf, welche Gebiete diese Linien durchschneiden, und ob dabei
nicht umfassende Komplexe durchsägt und so isoliert werden. Aber diese not-
wendigen und nicht individuellen Mängel — Bulle verhütet sie, soweit es irgend
geht — muß man in Kauf nehmen, und sie wiegen nicht allzu schwer angesichts
der verschwenderisch reichen Fülle des Gebotenen. Sehr sympathisch berührt auch
der Ausschluß alles Geistreichelnden, das die Wasser kräuselt, ohne ihre Tiefen zu
ermessen. Das Buch ist erfüllt von einer trockenen Gediegenheit und Sachlichkeit,
der jedoch die innere Wärme nicht fehlt, und die sich freihält von der betriebsamen
und überhitzten Rhetorik zahlreicher Kunstbücher, die »Kunst« statt »Kunstwissen-
schaft« bieten wollen.

Wenn ich nun ausführlicher bei dem Werk von Hausenstein verweile, so ge-
schieht es nicht deshalb, weil ich es etwa höher schätze als jenes von Bulle, sondern
weil es mehr Angriffspunkte dem Vertreter der Ästhetik und allgemeinen Kunst-
wissenschaft offen läßt. Ich will mit etwas relativ Äußerlichem beginnen, das aber
keineswegs unwichtig ist: Bulles Illustrationsmaterial ist durchaus im Text ver-
 
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