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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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272 BESPRECHUNGEN.

demokratische Ästhetik mit einer glänzenden Qualität imprägniert. Nach Polyklet
begannen die Dinge freilich rasch, dem Verfall zuzustreben. Die demokratische
Ästhetik enthielt wie die soziale Welt, der sie angehörte, die Zielrichtung aufs
Differenzierte, Momentane, Individuelle: auf die Impression. Wie die bürgerliche
Wirtschaft die Initiative des Individuums von allen hemmenden Konventionen be-
freit, so befreit die bürgerliche Kunst das Phänomen von der Disziplin konservativer
Stilschablone. Wie der bürgerliche Liberalismus das wirtschaftende und politische
Individuum emanzipiert, so emanzipiert die bürgerliche Kunst das Besondere der
Form, das nicht Integrale, das Spezielle. Wie der ökonomische Liberalismus die
schnellfüßige Zeit mit Geldeswert mißt, so gewinnt der flüchtige Augenblick, der
eine spezifische Formentfaltung zeitigen kann, dem Genie des bürgerlichen Künstlers
gesteigerte ästhetische Bedeutung. Aber wie der bürgerliche Liberalismus schließ-
lich in einem regellosen Chaos mündet, das in toller Anarchie alle positiv regu-
lierende Kultur aufhebt, so mündet die bürgerliche Kunst zuletzt allenthalben in der
Weltgeschichte in einem chaotischen Naturalismus, der in der impressionistischen
Anschauung sensationeller Einzelphänomene die organisierende Übersicht über das
Ganze verliert und die lapidaren Proportionen, den eigentlichen Gegenstand schöpferi-
schen Interesses, aus den Augen läßt. Der naturalistische Illusionismus des vierten
Jahrhunderts überschlägt sich zuletzt, wie sich der ökonomische Individualismus
Griechenlands überschlägt. Ein anarchisches Gemenge von individuellen Sonder-
interessen — so fällt Hellas dem Einzigen zu, der die Kraft hat, die Welt als sein
Eigentum zu betrachten«. Ist das nicht in starre Dogmen gepreßte künstlerische
Parteipolitik, die vielleicht richtige Ansätze maßlos ins Unbegrenzte emporwuchern
läßt und sich überall mit voreiligen Wertungen vordrängt? Und wie hilflos und
oberflächlich wird diese Einseitigkeit, wenn sie dem Genie sich nähert, dieses brutal
erfaßt und in die Formel zwängt. Man lese auf Seite 97 folgende Stelle: »Wir
müssen differenzieren. Die Behandlung der nackten Form ist in Vendig etwas ganz
anderes als in Florenz. Die florentinische Aktbehandlung erinnert viel mehr als
venezianische an die nordische Formenbehandlung. Der florentinischen Aktkunst
ist eine gewisse bürgerliche Enge zu eigen; es fehlt das musikalische Pathos der
venezianischen Form, die rauschende Orchestration eines Frauenaktes von Tizian
oder Palma. Der Gegensatz beruht im Grunde auf einem Unterschied der ökonomi-
schen und sozialen Organisation des Lebens, auf einem Unterschied der primären
Existenzgestaltung. Venedig ist fast nur Großhändlerstadt: eine Republik von
Handelskönigen. Florenz ist eine Stadt von gewerblicher Bürgerlichkeit, eine Stadt
mit mächtigen Zünften. Daher erklärt sich der Gegensatz: der Mangel an Gefühls-
überschwang in der florentinischen Kunst und das Dithyrambische der veneziani-
schen Form, das Illusionistisch-Endliche in der Kunst Donatellos, das grenzenlos
Ausschwingende der Kunst Tizians.« Wenn man die Epitheta umdreht, gibt es
ebenso einen Sinn; Hausenstein sucht materialistisch alles in äußeren Umständen
und vergißt, daß diese bereits großenteils auf innere Strukturverhältnisse zurück-
gehen.

So waren (vgl. Seite 207) gewiß die Spartiaten ein armes Volk; aber Hausen-
stein irrt, wenn er meint, sie hätten bloß deshalb die Nacktheit gepflegt, »weil die
Möglichkeit einer intensiven oder extensiven Bekleidungskultur« fehlte. Diese Mög-
lichkeit hätte sich wahrlich bei dem energischen und kriegsstarken Volke gefunden,
wenn der innere Wille dazu vorhanden gewesen wäre. Ihn begünstigte das arme
Land, aber es schuf ihn nicht. Und nun nur noch ein Beispiel für die Art, wie
selbstsicher bisweilen Hausenstein an schwierigen Problemen vorübergeht, weil er
das »Nächstliegendste« immer ergreift. Darum glaubt er, daß in der Urzeit die
 
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