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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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274 BESPRECHUNGEN.

der Hauptwert des Lippsschen Schaffens — und dies gilt nicht nur von diesem
Buche — steckt in der ungemeinen Anregungskraft und in der Ergiebigkeit der Be-
trachtungsweise, nicht aber in den Gesamtergebnissen. All die gegen die Ein-
fühlung vorgebrachten Bedenken werden auch jetzt nicht verstummen, sie werden
im Gegenteil wohl sogar neue Nahrung erhalten, aber eines muß auch der schärfste
Gegner zugeben: Lipps hat neue Probleme entdeckt, die sich nicht verschleiern
oder durch alte Termini überbrücken lassen. Man kann nun bezweifeln, daß
die Einfühlung das erlösende Wort spricht; und ich selbst habe die stärksten
Zweifel. Aber ein weites, wichtiges Neuland steht der Forschung offen, und
Lipps hat es gefunden. Uns geht an dieser Stelle nur ein Teil dieses Landes an,
nämlich der ästhetische. Und ihm schenkt Lipps keine unmittelbare und eigene
Betrachtung in seinem Buche. Ja indem die Einfühlung ihm immer mehr zum
Zentralproblem der gesamten Psychologie und Philosophie wird, rückt sie weit über
das Ästhetische heraus; und der bereits häufig geäußerte Einwand gewinnt an
Schärfe, die Einfühlung sei eine allgemein psychologische Tatsache, nicht aber der
den ästhetischen Wert begründende Akt. Selbst wenn sich Einfühlung überall fände,
wo wir ästhetisch erleben, könnte sie an sich und für sich allein nicht den Wesens-
kern des ästhetischen Verhaltens ausmachen, sondern es müßte entweder irgend
etwas zu ihr hinzukommen oder sie müßte in einer ganz bestimmten Richtung und
Form sich entwickeln, und auf diesen Momenten läge der Hauptnachdruck, und
nicht auf der einfachen Tatsache des Einfühlens. Daß wir einfühlen, besagt ästhe-
tisch gar nichts; entscheidend wäre lediglich der Nachweis eines spezifisch ästhe-
tischen Einfühlens, aber dieser Beweis ist nicht erbracht. Oder das Einfühlen geht
in die ästhetische Geisteshaltung ein, so folgt daraus nur, daß die Einfühlung nicht
unverträglich ist mit dem Ästhetischen, nicht aber, daß ihr in sich ästhetische Würde
eignet. Und auch ihre notwendige Gegebenheit gestattet noch nicht diese Schlußfolge-
rung : ich muß — ich will ein ethisches Beispiel hier heranziehen — um fremdes Leid
wissen, um zu ihm Stellung zu nehmen, sei es positiv durch Mitgefühl und Opfer-
bereitschaft, sei es negativ durch Schadenfreude und Grausamkeitswollust. Hier ist
»Einfühlung« notwendig, weil durch sie das fremde Leid erst für mich wird, durch
sie sich aufbaut; sie schafft den ethischen Gegenstand. Und so könnte sie vielleicht
unentbehrlich zur Herstellung aller oder gewisser ästhetischer Gebilde sein, ohne
selbst ästhetischen Wert beanspruchen zu dürfen. Der psychologische Gesamttat-
bestand, in dem und durch den ästhetisches Erleben sich verwirklicht, fällt nicht
zusammen mit dem Wesenhaft-Ästhetischen, und es heißt das letztere zersetzen,
wenn man es psychologisch ausweitet. Aber ich will hier diese Gedanken nicht
weiter verfolgen, deren Durchführung ja eine Grundlegung der Ästhetik umfassen
müßte, sondern ich will mich bestreben, in knappen Zügen den Lippsschen Stand-
punkt zu skizzieren.

Energisch verwahrt sich Lipps gegen die Gegner, die ihm oftmaligen Wechsel
seiner Lehren vorwerfen. »Wehe dem Philosophen und Psychologen, der, wie er
das erneute Durchdenken und eventuell das Umdenken dessen, was er einmal ge-
dacht und ausgesprochen hat, nicht mehr vermag, mit der Sache fertig ist. Und
doppelt wehe dem, der in jüngeren Jahren schon mit der Sache fertig ist. Es ist
zu fürchten, daß ein solcher auch in anderem Sinne ,fertig' sei. Freilich wird
für jeden die Zeit kommen, da er meint, er könne nun an seinen ehemaligen Ge-
danken nichts mehr korrigieren und ihnen nichts mehr hinzufügen. Dann hat er
einen individuellen Abschluß erreicht. Niemals aber darf er auch jetzt sagen, daß
die absolute Wahrheit nun von ihm gewonnen sei. Immer noch könnte eine neue
Seite an der Sache später gefunden werden oder eine neue Ausdrucksweise später sich
 
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