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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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Erpf, Hermann: Der Begriff der musikalischen Form
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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0392

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386 HERMANN ERPF.

der Musikgeschichte ergeben; die einzelnen Stilarten würden in
ihrer Eigenart scharf heraustreten und zu charakterisieren sein, und
es würden sich schließlich bestimmte, konkret definierbare Erschei-
nungen im Stilbildungs- und -Verfallsprozeß feststellen lassen.

G. Adler verfolgt diese Absichten in seinem Buche »Der Stil in
der Musik«. Er geht aber einen anderen, eigentlich den umgekehrten
Weg. Sein Stilbegriff ist, wie er selbst sagt, nicht im logischen Sinne
definiert, sondern nur umschrieben. (Er stellt den Stil fest als »die
Art und Weise, wie der Künstler seine Gedanken und Stimmungen
faßt«; auch: »Ein Werk ist stilhaft, wenn es in einem ausgeprägten
Stil gehalten ist«.) Infolgedessen sind seine »Stilprinzipien« nicht von
einem zentralen Begriff (eben dem des »Stiles«) aus systematisch ab-
geleitet, sondern sie sind willkürlich und ohne inneren Zusammen-
hang der historischen Beobachtung und Erfahrung entnommen. Der
bis jetzt allein vorliegende erste Teil des Werkes läßt noch nicht deut-
lich erkennen, wie das Ganze sich gestalten wird. Indessen scheint
es mir, als ob »Stilprinzipien«, d. h. Begriffe, nach denen die histo-
rischen Stile untersucht werden sollen, vor allem einer außerhisto-
rischen Verankerung bedürften, um sie gegen alle historischen Zu-
fälligkeiten (der Überlieferung, der Zugänglichkeit des Materials usw.)
zu sichern. Eine solche dürfte nur möglich sein im Anschluß an die
allgemeine musikalische Formenlehre (wie es hier versucht wurde)
oder an ein bestimmtes ästhetisches System. Da die Geltung eines
solchen aber auch wieder historisch bedingt und begrenzt ist, so ist
wohl der erstere Weg vorzuziehen.

Von dieser Grundlage aus dürfte die Zeit zur Aufstellung von
»Stilprinzipien« aber noch nicht gekommen sein, denn dazu bedarf es
vor allem einer gründlichen Untersuchung des gesamten vorliegenden
Materials in bezug auf die Formen und ihre Entwicklung. Riemanns
»Handbuch« ist diesen Weg gegangen und hat zum erstenmal eine
auf einheitlicher, methodisch einwandfreier Grundlage beruhende
Periodisierung der Musikgeschichte versucht. Der weitere Ausbau
wie aber auch die Kritik an dieser Periodisierung werden sich dieser
Grundlagen bewußt sein müssen.

Noch ist sehr viel zu tun. Die bisherigen Ergebnisse sind nur
sehr allgemeine. Es steht ja heute noch nicht einmal die Entwick-
lung der Sonatenform widerspruchsfrei und allgemein anerkannt fest,
und an Untersuchungen über die Entwicklung der Fugenform fehlt
es noch ganz und gar. Die Formenerforschung dürfte also für die
nächste Zeit eine der wichtigsten und dringendsten Aufgaben der
Musikgeschichte bilden.
 
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