ZUR BEGRÜNDUNG EINER ANIMISTISCHEN ÄSTHETIK. 405
des wertvollen ästhetischen Objektes ausmacht«1). Ein Kunstwerk mag
garstige Häßlichkeit ausdrücken wie A. Rodins »Vieille Heaulmiere«:
ein zusammengekauertes, mumienhaft verschrumpftes altes Weib über-
kommt das Gefühl des Ekels, der Schmach, der Verzweiflung. Dieses
Werk ist die großartigste Verkörperung schmutzigen Elends, eine wahre
Apotheose jeder pessimistischen Lebensanschauung. Die gewaltige
Kraft des Ausdrucks, die ihr Rodin verliehen, stellt diese Statuette dabei
in die erste Reihe neuzeitlicher Kunstschöpfungen. Wer wollte dieses
grandiose Kunstwerk jedoch ästhetisch wertlos nennen, weil es un-
sagbar häßlich ist? Wer kann sich vermessen, ihm ethischen Wert
zuzuerkennen, weil er ihm ästhetischen nicht absprechen darf? Die
meisten Ästhetiker schließen vor dem ethisch-ästhetischen Problem die
Augen, oder sie neigen zu beschönigenden Kompromissen. Wer jedoch
der Wahrheit die Ehre gibt, muß uns beipflichten, daß viele ästhetisch
wertvolle Kunstwerke, unter ethischem Gesichtspunkt betrachtet, von
Grund aus zu verdammen sind. Es führt zu weit, an dieser Stelle
ethische Probleme zu diskutieren. So viel ist gewiß: der Ethiker ver-
langt, die »Vieille Heaulmiere« solle Ekel und Abscheu erwecken; der
ästhetische Genießer dagegen hat in ihrer Betrachtung tiefen Genuß,
die starke Lust am Ausdrucksvollen. Vielleicht neigt man dennoch zu
der Behauptung, die Kunstwerke übten auf die Genießenden »sittlichen
Einfluß« aus, und nennt kurz entschlossen alle Kunstwerke außer-
ästhetisch, die dieser Forderung, »sittlichen Einfluß« auszuüben, nicht
genügten. »Die Muse, mit stiller Kraft wirkend, macht die Seele edler«
ist ja ein beliebtes Aufsatzthema in unseren Schulen.
Zugegeben, jene Pädagogen und Ästhetiker hätten recht, für die
das Dargestellte, das Kunstwerk, seinem »geistigen Gehalt« nach immer
»ethisch wertvoll«, im weitesten Sinne vielleicht ästhetisch schön sein
müsse, um den Titel Kunstwerk tragen zu dürfen. Ist nicht vielleicht
ästhetisches Genießen als solches aller Ethik zuwider oder doch in
vielen Fällen? Kann ich nicht mit »interesselosem Wohlgefallen« eine
Sturmflut, eine Feuersbrunst, die anderen Menschen das Leben kostet,
ästhetisch genießen, wo ich mich »interessiert« helfend betätigen sollte?
Der Ästhetiker hat eben andere Maßstäbe als der Ethiker. Dieser kann
und muß zum Problem ästhetischen Genießens bejahende oder ab-
lehnende Stellung einnehmen. Hat er keinen Grund, ästhetisches Ge-
nießen überhaupt für unmoralisch zu erklären, so bleibt für ihn immer
noch die Entscheidung, wann der ästhetische Genuß berechtigt, d. h.
ethisch wertvoll, wann er indifferent, d. h. für die ethische Betrachtung
gleichgültig, und in welchen besonderen Fällen (Sturmflut, Feuersbrunst)
er unberechtigt, d. h. hier der Sittlichkeit zuwider ist.
') Lipps, Leitfaden d. Psycho]. 1909, S. 343.
des wertvollen ästhetischen Objektes ausmacht«1). Ein Kunstwerk mag
garstige Häßlichkeit ausdrücken wie A. Rodins »Vieille Heaulmiere«:
ein zusammengekauertes, mumienhaft verschrumpftes altes Weib über-
kommt das Gefühl des Ekels, der Schmach, der Verzweiflung. Dieses
Werk ist die großartigste Verkörperung schmutzigen Elends, eine wahre
Apotheose jeder pessimistischen Lebensanschauung. Die gewaltige
Kraft des Ausdrucks, die ihr Rodin verliehen, stellt diese Statuette dabei
in die erste Reihe neuzeitlicher Kunstschöpfungen. Wer wollte dieses
grandiose Kunstwerk jedoch ästhetisch wertlos nennen, weil es un-
sagbar häßlich ist? Wer kann sich vermessen, ihm ethischen Wert
zuzuerkennen, weil er ihm ästhetischen nicht absprechen darf? Die
meisten Ästhetiker schließen vor dem ethisch-ästhetischen Problem die
Augen, oder sie neigen zu beschönigenden Kompromissen. Wer jedoch
der Wahrheit die Ehre gibt, muß uns beipflichten, daß viele ästhetisch
wertvolle Kunstwerke, unter ethischem Gesichtspunkt betrachtet, von
Grund aus zu verdammen sind. Es führt zu weit, an dieser Stelle
ethische Probleme zu diskutieren. So viel ist gewiß: der Ethiker ver-
langt, die »Vieille Heaulmiere« solle Ekel und Abscheu erwecken; der
ästhetische Genießer dagegen hat in ihrer Betrachtung tiefen Genuß,
die starke Lust am Ausdrucksvollen. Vielleicht neigt man dennoch zu
der Behauptung, die Kunstwerke übten auf die Genießenden »sittlichen
Einfluß« aus, und nennt kurz entschlossen alle Kunstwerke außer-
ästhetisch, die dieser Forderung, »sittlichen Einfluß« auszuüben, nicht
genügten. »Die Muse, mit stiller Kraft wirkend, macht die Seele edler«
ist ja ein beliebtes Aufsatzthema in unseren Schulen.
Zugegeben, jene Pädagogen und Ästhetiker hätten recht, für die
das Dargestellte, das Kunstwerk, seinem »geistigen Gehalt« nach immer
»ethisch wertvoll«, im weitesten Sinne vielleicht ästhetisch schön sein
müsse, um den Titel Kunstwerk tragen zu dürfen. Ist nicht vielleicht
ästhetisches Genießen als solches aller Ethik zuwider oder doch in
vielen Fällen? Kann ich nicht mit »interesselosem Wohlgefallen« eine
Sturmflut, eine Feuersbrunst, die anderen Menschen das Leben kostet,
ästhetisch genießen, wo ich mich »interessiert« helfend betätigen sollte?
Der Ästhetiker hat eben andere Maßstäbe als der Ethiker. Dieser kann
und muß zum Problem ästhetischen Genießens bejahende oder ab-
lehnende Stellung einnehmen. Hat er keinen Grund, ästhetisches Ge-
nießen überhaupt für unmoralisch zu erklären, so bleibt für ihn immer
noch die Entscheidung, wann der ästhetische Genuß berechtigt, d. h.
ethisch wertvoll, wann er indifferent, d. h. für die ethische Betrachtung
gleichgültig, und in welchen besonderen Fällen (Sturmflut, Feuersbrunst)
er unberechtigt, d. h. hier der Sittlichkeit zuwider ist.
') Lipps, Leitfaden d. Psycho]. 1909, S. 343.