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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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Hernried, Erwin: Weltanschauung und Kunstform von Shakespeares Drama
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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0525

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514 ERWIN HERNRIED.

die Kraft, die Tragik des endlichen Seins auszuhalten. Ja nun erst
recht scheint sein Lebensgefühl ihn ganz auf die Wirklichkeit zu ver-
weisen. Gibt es keinen Ausweg aus dem individuellen Leben, so kann
nur in ihm selbst Sinn und Lohn seines einmaligen Seins liegen. In
der Stärke, mit der es, nicht Gedanken, sondern ganz Leben, in die
Erscheinungsform des Lebens einströmt und in ihr sich auswirkt,
liegt der Maßstab seines Wertes.

Hier liegt die Wurzel seiner Heldendramen. Ihre unausgesprochene
Lehre ist die Philosophie des stärksten Lebens. In jedem von ihnen
rauscht ein einzelnes Leben zu übermenschlicher Leidenschaft empor.
Kein Richter über ihm wird anerkannt. Die Triebe und Notwendig-
keiten des eigenen Wesens setzen sich schrankenlos durch. Der Wille
zur Macht unterdrückt, wo es sein muß, seines Wertes bewußt, alle
schwächeren Instinkte, die einer Gemeinschaft dienen. Kein Wille ist
über dem, sich selbst zu erfüllen, keine andere Gottheit über Macht
und Lebenswillen. In dem stärksten Leben verkörpert sich so die
Größe und Schönheit des ganzen Lebens. Der Sinn und Wert des
Lebens, in Kleinheit und Kleinlichkeit verkümmert, ersteht in dem
Leben des großen Menschen wieder, der stark genug ist, seine letzte
Wucht zu ertragen, und der kein Außer- und Über-ihm braucht, das
seinen Willen heiligte.

Dieser Lebenswille ist tragisch wie der Lebenswille selbst. Er geht
an sich zugrunde, wie dieser sich aufzehrt. Sein Wille — der Wille
zur Macht, zur Leidenschaft, zur Güte — muß, grenzenlos wie er ist,
schließlich an äußeren Grenzen scheitern. »Individualist«, »Egoist« ist
keiner. Othello nicht, und selbstverständlich auch nicht Lear und
Timon und Antonius. Sie alle gehorchen dem Dämon Willen, der
großartigen Genußsucht und Liebesfähigkeit, die in ihnen ist, oder der
Leidenschaft, die irregeleitet aus bedingungsloser Liebe bedingungslose
Eifersucht wird, aus unendlicher Güte unendlicher Menschenhaß. Das
menschliche Ideal Shakespeares ist hier zu äußerster Größe gewachsen.
Vor der Kraft dieser Heldenleben wird das Leben der meisten seiner
Geschichtsgestalten fast sozial und gewöhnlich. Sein Held stellt nicht
mehr den Typus des normalen begabten Menschen dar, wie Heinrich V.,
nicht mehr das »Genie der Tatsächlichkeit«. Im Gegenteil, die nüch-
ternen Wirklichkeitsmenschen sind es, denen seine Helden erliegen (wie
Antonius dem Oktavius) oder die ihnen (wie Alkibiades dem Timon)
zeigen, wie man es machen muß, um mit diesem Leben auf ebener
Bahn fertig zu werden. Aus der sozialer Wertung unterliegenden
Sphäre des praktischen Gelingens erhebt sich Shakespeare hier zur
Höhe eines Lebens, das sich von aller gesellschaftlichen und prakti-
schen Bewertung losgelöst hat, das keinen »Erfolg« braucht, um sich
 
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