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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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Dosenheimer, Elise: Nietzsches Idee der Kunst und des Tragischen
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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0547

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536 ELISE DOSENHEIMER.

nicht in einem moralischen Wesen gesucht werden; ihr Schöpfer kann
nicht anders als ein »Künstler-Schöpfer« sein, »ein gänzlich unbedenk-
licher und unmoralischer Künstler-Oott----------------der sich Welten

schaffend von der Not der Fülle und Überfülle, vom Leiden der in ihm
gedrängten Gegensätze löst« (Geb. d. Tr. 40). Die Welt ist somit ästhe-
tisches Phänomen in doppeltem, in materialem und formalem Sinn:
material als nicht-moralisches und insofern analog der Kunst auf Un-
wirklichkeit, »Schein«, aufgebautes Phänomen, formal von der Seite ihres
Schöpfeis her als künstlerische Produktion, insofern die Voraussetzungen
ihres Entstehens in Parallele gesetzt werden mit den Bedingungen,
wie sie das Wesen des künstlerischen Schaffens charakterisieren.

Dies ist eine Gedankenreihe, die aber mehr die Welt durch die
Kunst als diese durch jene erklärt. Die andere, ihre notwendige Er-
gänzung, ist die: Jener Urwiderspruch muß aus sich heraus ein Kor-
relat seiner selbst erzeugen, soll er ertragen werden, soll Leben sein.
Aus der nicht-moralischen, der Welt der Illusion, muß eine andere
Welt der Illusion hervorgehen, um jene selbst zu überwinden. Diese
andere Welt ist die Kunst. »Wenn der Widerspruch das wahrhafte
Sein, die Lust der Schein ist, wenn das Werden zum Schein ge-
hört -----------dann sind wir das Sein und müssen aus uns den Schein

erzeugen. Die tragische Erkenntnis als Mutter der Kunst« (N I, 198).
In der Vorstellungswelt, die die Kunst schafft, gibt sie uns ein Mittel,
über jene Erkenntnis hinauszukommen, und damit ein Mittel der Welt-
erlösung und Weltvollendung; »insofern durch Vorstellung der Ur-
schmerz gebrochen wird,« gibt sie uns durch die Erscheinung ein
Gegenmittel gegen den Urwiderspruch des Seins. Diese Auffassung,
daß durch die Vorstellung die Wirklichkeit aufgehoben wird, weist
bereits auf das Tragische. Sie findet ihre letzte Ausprägung in dem
Gedanken, daß das Schreckliche oder das.Absurde erhebend ist, weil
es nur scheinbar schrecklich oder absurd ist (ib. 90), weil es eben
in einer Welt der Bildlichkeit seine Verklärung und damit seine Auf-
hebung findet. Und indem so endlich die Kunst durch ihre Schöp-
fungen »das höchste Lustziel des Menschen« bietet, wird sie Ver-
führerin zum Dasein. »Das Leben ist nur möglich durch künstlerische
Wahnbilder« (ib. 189).

In dieser Metaphysik der Kunst wurzelt letzten Endes die anti-
intellektualistische, antihistorische Einstellung des Nietzsche jener Zeit.
Die negative Bewertung der Wissenschaft als empirischen Kultur-
faktors, die Verachtung besonders der historischen Wissenschaften als
der »Mumisierung des einmal in ferner Zeit Gültigen und Notwen-
digen«, die so weit geht, den wahllosen Wissenstrieb dem wahllosen
Geschlechtstrieb gleichzusetzen, die unbedingte Entscheidung in dem
 
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