542 ELISE DOSENHEIMER.
lichten Form, im Gleichnis schauen und so deren vernichtende Wir-
kung abprallen läßt. In dem Mythus entreißt uns die apollinische
Kraft der dionysischen Allgemeinheit, um uns der Welt der Er-
scheinungen, der Individuen wieder zuzuführen. Jetzt wird der Ur-
widerspruch der Welt zum tragischen Geschick des In-
dividuums, das Urleiden zum Mitleiden mit dem tragischen
Helden, das Weltbild wird zum Menschenbild x). Damit ist
der letzte Ausdruck der immanenten Kausalität der die Tragödie kon-
stituierenden metaphysisch-psychologischen Antithese gegeben. Das
Dionysische hebt unsere Individualität auf, das Apollinische stellt sie
wieder her.
Ist nun die Verbindung zwischen Musik und Mythus, zwischen
dem Apollinischen und dem Dionysischen die Entstehung der Tra-
gödie, so ist es ganz natürlich, daß die Lösung dieser ihren Wesens-
zusammenhang konstituierenden Synthese ihren Verfall bedingt. Diese
Lösung beginnt mit dem Übergewicht des apollinischen über das
dionysische Element, und dieses wieder ist nichts anderes als die Folge
des Überhandnehmens der intellektualistischen über die künstlerische,
der »theoretischen« über die »tragische Kultur«. Damit ist die Stellung
Nietzsches zu Sokrates gegeben. In ihr symbolisiert sich seine Stel-
lung zur theoretischen Kultur.
Mit Sokrates, dem theoretischen Menschen par excellence, dem das
Erkennen das höchste Kriterium des Menschlichen bedeutete, der das
Ethische wie das Ästhetische, der die Metaphysik alles Seins in Vernunft
auflöste, dessen untragischer Optimismus die Welt durch ihre Begreif-
lichkeit gerechtfertigt sah, war die Götterdämmerung der tragischen
Kunst und damit, analog jener oben mitgeteilten Auffassung, wonach
die Geschichte der griechischen Kultur mit der der Tragödie zusammen-
fällt, eine neue, eine niedergehende Epoche in der Geschichte des
griechischen Geistes angebrochen. Er war der »Vater der Logik« —
er war der Tod der Tragödie.
Bereits bei Sophokles sieht Nietzsche die antidionysische Tendenz
wirksam; bereits bei ihm ist die sokratische Dialektik in den Dialog
eingedrungen, so daß seine Personen »nicht am Tragischen, sondern
an einer Superfötation des Logischen« zugrunde zu gehen scheinen
(N I, 53). Die Auflösung vollzieht sich bei Euripides. An Stelle
des »Inkommensurablen« und Zwiespältigen der äschyleischen Tragödie
tritt die Sophisterei der euripideischen Helden, und damit ein Element,
das die dionysischen Regionen der Tragödie allmählich überwuchert
') Siehe die Stelle in der Oeb. d. Tr., die sich in diesem Sinne auf Tristan
bezieht.
lichten Form, im Gleichnis schauen und so deren vernichtende Wir-
kung abprallen läßt. In dem Mythus entreißt uns die apollinische
Kraft der dionysischen Allgemeinheit, um uns der Welt der Er-
scheinungen, der Individuen wieder zuzuführen. Jetzt wird der Ur-
widerspruch der Welt zum tragischen Geschick des In-
dividuums, das Urleiden zum Mitleiden mit dem tragischen
Helden, das Weltbild wird zum Menschenbild x). Damit ist
der letzte Ausdruck der immanenten Kausalität der die Tragödie kon-
stituierenden metaphysisch-psychologischen Antithese gegeben. Das
Dionysische hebt unsere Individualität auf, das Apollinische stellt sie
wieder her.
Ist nun die Verbindung zwischen Musik und Mythus, zwischen
dem Apollinischen und dem Dionysischen die Entstehung der Tra-
gödie, so ist es ganz natürlich, daß die Lösung dieser ihren Wesens-
zusammenhang konstituierenden Synthese ihren Verfall bedingt. Diese
Lösung beginnt mit dem Übergewicht des apollinischen über das
dionysische Element, und dieses wieder ist nichts anderes als die Folge
des Überhandnehmens der intellektualistischen über die künstlerische,
der »theoretischen« über die »tragische Kultur«. Damit ist die Stellung
Nietzsches zu Sokrates gegeben. In ihr symbolisiert sich seine Stel-
lung zur theoretischen Kultur.
Mit Sokrates, dem theoretischen Menschen par excellence, dem das
Erkennen das höchste Kriterium des Menschlichen bedeutete, der das
Ethische wie das Ästhetische, der die Metaphysik alles Seins in Vernunft
auflöste, dessen untragischer Optimismus die Welt durch ihre Begreif-
lichkeit gerechtfertigt sah, war die Götterdämmerung der tragischen
Kunst und damit, analog jener oben mitgeteilten Auffassung, wonach
die Geschichte der griechischen Kultur mit der der Tragödie zusammen-
fällt, eine neue, eine niedergehende Epoche in der Geschichte des
griechischen Geistes angebrochen. Er war der »Vater der Logik« —
er war der Tod der Tragödie.
Bereits bei Sophokles sieht Nietzsche die antidionysische Tendenz
wirksam; bereits bei ihm ist die sokratische Dialektik in den Dialog
eingedrungen, so daß seine Personen »nicht am Tragischen, sondern
an einer Superfötation des Logischen« zugrunde zu gehen scheinen
(N I, 53). Die Auflösung vollzieht sich bei Euripides. An Stelle
des »Inkommensurablen« und Zwiespältigen der äschyleischen Tragödie
tritt die Sophisterei der euripideischen Helden, und damit ein Element,
das die dionysischen Regionen der Tragödie allmählich überwuchert
') Siehe die Stelle in der Oeb. d. Tr., die sich in diesem Sinne auf Tristan
bezieht.