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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0583

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572 BESPRECHUNGEN.

schaffe ohne Rücksicht auf eigene Erlebnisse und Stimmungen, er wolle nur fremden
Menschen und Schicksalen Gestaltung geben: »Es scheint uns nun die Sache
so zu liegen, daß fast alle Dichter von beiden Tendenzen nebeneinander beseelt
waren« (S. 25). Manche Leute verlangen für ästhetische Untersuchungen eine
Norm- oder Grundwissenschaft: »Die Behauptung ist nur zum Teil richtig« (S. 17).
Einerseits, anderseits; anderseits, einerseits. Dabei gibt es kaum eine Torheit, der
nicht ein gewisses Recht zuerkannt würde; man sehe etwa, wie zart und schüchtern
der Verfasser (S. 22) »diejenige Anschauung vom Wesen des Dichters« ablehnt,
»die die dichterische Begabung als eine Form des Wahnsinns hinstellt«.

Das Ganze beruht auf der Voraussetzung, der Dichter schaffe seine »anmutigen
und suggestiven« Werke mit der »Tendenz«, einem p. t. Publiko »ästhetische, d. h.
von äußeren Interessen losgelöste, unsere Seele in harmonischer, das praktische
Leben ergänzender und daher lustbetonter Weise anregende Erlebnisse zu ge-
währen« (S. 2), und die Poetik habe die Aufgabe, herauszubekommen, wie man
das macht (vgl. S. 17 unten). Und zwar dichtet der Dichter manchmal lediglich,
um den Leuten einen angenehmen Abend zu verschaffen, manchmal aber auch aus
Not: »Geldnot, Ehrgeiz, Eitelkeit, äußere Aufträge und hundert andere Motive
wirken zusammen, um oft den Dichter zum Schaffen anzuregen« (S. 27). Nein,
Herr Doktor, das gilt vielleicht für die Mitarbeiter des Illustrierten Familienblattes
für Haus und Heim, aber nicht für Dichter; wer sich durch diese Motive oft zum
Schaffen anregen läßt, wer beim Schaffen überhaupt ans Publikum denkt, der ist
kein gotterfüllter, sondern gottverlassener Poet. Dichten ist ein Müssen, das auch
bestände, wenn der Dichter allein auf der Welt wäre; Dichten ist die innere Not-
wendigkeit, diese unfertige und zufällige Welt in vollkommener Reinheit, Schönheit
und Absolutheit herauszustellen; Dichten ist der heftige Zwang, aus dem, was ist,
zu machen, was sein sollte, was wäre, wenn jedes Ding sich nach eigenen, in ihm
ruhenden Gesetzen bis zum Äußersten auswirken und steigern könnte; Dichten ist
der schrankenlose Traum, der alles Keimhafte und Unvollkommene dieser Welt auf-
hebt und ihre letzte Vollendung, ihre Idee erträumt — ohne Rücksicht auf Müller und
Schulze. Wobei keineswegs eine blasse Abstraktion herauskommt: die Rose etwa
ist die »Idee« der Blume oder die Bulldogge die »Idee« eines häßlichen Hundes —
und sind doch beide höchst real. Auch der Naturalismus kann nicht umhin, das
Vorhandene zu steigern, indem er das Typische heraushebt und zusammenordnet:
bloße Photographie ist keine Kunst. Nur gibt es eben Typus und Typus: es gibt
einen Typus des Menschen, einen Typus des Deutschen, einen Typus des Bayern
und einen Typus des Müncheners, und der Typus des Müncheners ist mit dem
Typus des Menschen keineswegs identisch. Auch gibt es einen Typus des Königs,
einen Typus des Bürgers und einen Typus des Droschkenkutschers — und es läßt
sich nicht leugnen, daß der Typus des Königs dem Typus des Menschen immerhin
nähersteht als der Typus des Droschkenkutschers, eben weil der König im allge-
meinen freier und mächtiger ist und sich besser auswirken kann als der Arme und
Abhängige (wenigstens war das früher so). Aber damit ist nicht gesagt, daß nicht
auch die Armen und Abhängigen den Dichter reizen, nein zwingen können, ihre
letzte Entfaltung herauszuarbeiten.

Naturalismus oder Klassizismus ist eine Frage der Stoffwahl, nicht des Prinzips.
Klassizismus und Romantismus gleichfalls: der eine geht mehr auf Herausarbeitung
von Handlungen aus, der andere mehr auf Herausarbeitung von Stimmungen, denn
auch die Stimmungen, die im Durchschnittsmenschen nur in Ansätzen und Keimen
vorhanden sind, weil sie immer gleich wieder von praktischen Interessen verdrängt
werden — auch die Stimmungen sind einer solchen restlosen Herausarbeitung zu-
 
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