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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0586

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BESPRECHUNGEN. 575

Wahrheit, wahrste Wahrheit ist also das gemeinsame Ziel, dem der Schaffende
und der Genießende zustreben, und erst in diesem Ziele finden sie sich, nicht
darin, daß der eine aus Not arbeitet und der andere es bezahlen kann. Und durch
diese wahrste Wahrheit wird auch jener »Effekt« erzielt, von dem Schiller in seinen
Briefen so viel spricht und den der Verfasser mit errechneter und erklügelter Theater-
wirkung verwechselt (S. 15). Wahrheit ist auch die gemeinsame Absicht des Klassi-
zisten und des Naturalisten. Nur daß sich eines nicht für alle schickt: es ist ebenso
unwahr, wenn ein Hausknecht kunstvolle Perioden baut, wie wenn ein Herrscher
im Berliner Dialekt kommandiert. Der Naturalismus war unter anderem eine Re-
aktion teils gegen wirklich falsches Pathos, teils gegen echtes, das man für falsch
hielt, weil man nicht mehr an große Menschen und große Worte glaubte. Die
Darstellung einfacherer und beschränkterer Verhältnisse und Menschen erforderte
naturgemäß eine schlichtere und intimere Sprache als etwa der »Wallenstein«. Das
möge die Poetik untersuchen. Die Auffassung des Dichtens als »Verdichtens« ist
keineswegs so spekulativ und »kunstfremd«, wie der Verfasser vielleicht meint, und
erlaubt eine Untersuchung auch der kleinsten Einzelheiten. Hierher gehört z. B.
die Wortwahl. Es gibt Worte, die die Dinge charakteristischer, wahrer, treffender,
eigentlicher, plastischer, intensiver bezeichnen als andere, es gibt künstlerische und
unkünstlerische Worte, notwendige und zufällige, und der Dichter muß die ersteren
zu finden wissen. So sind etwa die Worte arm, elend, öde, denen die normale
konsonantische Einleitung fehlt, besonders charakteristisch, besonders geeignet, das
Mangelhaben und Entblößtsein zu bezeichnen; diese Worte sind gleichsam nackt
und kahl, und darum besonders anschaulich: arm bezeichnet die Tatsache, daß
jemand in schlechten Verhältnissen lebt, nicht blaß und abstrakt, sondern höchst
sinnlich und augenfällig. Eine künstlerische Sprache schreiben heißt nun, die Wir-
kung solcher Worte durch geschickte Stellung und Verknüpfung besonders hervor-
treten lassen (was meist unbewußt geschieht). So sagt schon der Formelschatz der
allgemeinen Sprache: arm und elend; so spricht Thomas Mann in einem Satze,
den der Verfasser (S. 21) zitiert, von einer gewissen »menschlichen Verarmung und
Verödung«. Auf diese Weise kommt die dichterische Steigerung sprachlich zum
Ausdruck. Die Sprache kann ja nicht konkrete, sinnliche Anschauung geben wie
Malerei und Plastik; wohl aber besitzt sie in den Lautverbindungen ein Mittel, in
uns Erregungen wachzurufen, die viel stärker sein können als der konkrete optische
Eindruck der Gegenstände selbst; weil das Wort in uns die Gefühlswerte der
Dinge direkt, ohne den Umweg über die optische Vorstellung wachruft. Das
Wort Frühling z.B. ist bereits viel zu allgemein und zu wenig konkret, um
optisch vorgestellt zu werden (von Worten wie Liebe schon gar nicht zu reden!)
— aber wenn wir es hören, so jubelt es in uns. Die Wortkunst ist der Musik viel
verwandter als der Malerei. — Das wäre einer der Punkte, die eine »Poetik« be-
handeln müßte. Aber der Verfasser ist weit davon entfernt. Wer erotisch und
sexuell verwechselt, der hat die Bedeutung der Wortwahl nicht begriffen.

Sobald der Verfasser auf dieses Gebiet zu sprechen kommt, wird's lustig. S. 35
stellt er »folgende fünf Hauptformen der Affekte« auf: 1. Stolz, 2. Demut,
3. Angst und Zorn, 4. »die Sympathie oder Zuneigung und 5., sorgfältig
davon zu unterscheiden, wenn auch oft verbunden damit: der Sexualtrieb«. Dem-
entsprechend unterscheidet er (S. 28) Dichter des Stolzes, der Angst, des Zorns
und des Hasses, »wie solche der Sympathie, wovon wiederum zu scheiden ist der
Dichter der sexuellen Liebe, der sich freilich oft mit dem Sympathiedichter
verquickt«. Am Schluß einer längeren Charakteristik der Dichterpersönlichkeit
Goethes heißt es S. 40: »Was die einzelnen Affekte in seinem Dichten anlangt,
 
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