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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0266

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260 BESPRECHUNGEN.

dem Bilde haben kann. Oder: Kein Mensch kann Michelangelo schwächlich oder
süßlich nennen, fast so wenig wie man denken kann 2x2 = 5; sagen kann man
natürlich beides, aber das besagt gar nichts. Manchen Naturen ist nun die Kraft
und Anspannung Michelangelos zu stark, zu anstrengend, je nach ihrer psycho-
physischen Organisation; vielen bedeutet Michelangelo eine Erfrischung, wie
man sie etwa von einem starken elektrischen Strom haben kann, anderen da-
gegen eine Überrumpelung und Zumutung, die bisweilen, wie es sensitiven Malern
tatsächlich gegangen ist, bis zum körperlichen Schmerz führen kann. Dabei
brauchen wieder nicht alle Naturen, die seine Kunst als Überrumpelung emp-
finden, diese Überrumpelung unangenehm zu empfinden — selbst darin sind noch
Variationen möglich und wirklich. Je weiter man sich in das Gebiet der Wert-
betonungen begibt, desto mehr nimmt die Verschiedenheit zu; zugleich freilich ist
klar, daß alle diese Differenzen, von denen soeben beim Beispiel Michelangelos
die Rede war, wieder nach psychologischen Gesetzen verständlich und sogar in
eine graduell abgestufte Reihe zu bringen sind. Die Frage nach der Möglich-
keit allgemein gültiger Urteile gegenüber der Kunst wird durch diese Ein-
sichten stark gefördert (wobei abermals zu beachten ist, daß die Aufgabe der
Ästhetik nicht darin besteht, solche Urteile zu liefern, sondern die Möglichkeit und
Tatsächlichkeit solcher übereinstimmenden Urteile festzustellen und zu erklären!).
Die Tatsachenurteile zwar werden eher und mehr übereinstimmen
als die Werturteile, denn die Verschiedenheit der Menschen ist größer im
Werten als im tatsächlichen Auffassen des Quäle eines künstlerischen Eindrucks.

Über die Verschiedenheit der Kunsturteile überhaupt möge hier
eine Einschaltung gestattet sein, die zwar nicht Lalosche Gedanken betrifft, aber
durch Lalos Streben zum Dogmatismus veranlaßt ist. Das häufige Abweichen der
Urteile auch zwischen wohl vorbereiteten, ästhetisch erzogenen Leuten kann aus
mehreren Quellen kommen. Die Einsicht aber in diese Quellen erklärt, ordnet
und beruhigt. Entweder nämlich fixieren die Betrachter an dem Kunstwerk nicht
genau dieselben Elemente und Formen mit gleicher Aufmerksamkeit; und das kann
wieder von Zufällen abhängen (z. B. von der momentanen Bewußtseinslage). Die
Individuen können aber auch ihre sinnliche Auffassungsfähigkeit in verschiedenem
Grade ausgebildet haben. Oder es kann genau derselbe Reiz auf verschiedene
Individuen verschieden wirken (wie z. B. im sinnlichen Gebiet das Phänomen der
Farbenblindheit zeigt). Doch wird die sinnliche Verschiedenheit nicht so groß
sein, wie man gewöhnlich denkt, z. B. ist Farbenblindheit immerhin selten, und in
ihr gibt es Abstufungen, die wieder bestimmten Regeln folgen. Drittens kann
die Verschiedenheit der Urteile von dem dauernden — ererbten oder erwor-
benen — Bewußtseinszustand abhängen. Vielfach werden sich die Abweichungen in
graduelle Abstufungen ordnen lassen; so z.B. die Unterschiede einer flacheren
oder tieferen Auffassung, also der verschiedene Grad, in dem man dem Künstler
nachzukommen vermag. Die Kunst bearbeitet ja die unerschöpfliche Natur stets
in starker Auswahl, und vor Kunstwerken können oder brauchen daher die Auf-
nehmenden mindestens nicht so weit zu divergieren wie vor der Natur. Zwar
können, wie schon berührt wurde, ganz große Künstler ebenfalls unendlich
verschieden wirken, aber doch eben deshalb, weil sie selber unendlich reich
sind. Z. B. hat jeder, der etwas von Goethe weiß, seinen eigenen Goethe; doch
ist dieser ausgewählte Goethe nicht etwa von den aufnehmenden Individuen in den
historischen Goethe hineingetragen, sondern herausgeholt; denn in dem
historischen sind alle möglichen und zum Teil widersprechenden Seiten darin,
genau so wie Dürer von der Natur sagte, daß alle Kunst in ihr stecke und nur
 
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