Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 11.1916

DOI article:
Marcus, Hugo: Die Distanz in der Landschaft
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.3817#0057

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
52 HUGO MARCUS.

den Reiz der perspektivischen Fülle und des erhöhten Raumgefühls
in der Landschaft. Mit der Weiträumigkeit der Landschaft weitet sich
unsere eigene Existenz, unsere Brust, unser Atem; und mit unserem
Auge fliegt unsere ahnende Sehnsucht bis zum Horizont, hinter den
Horizont. Dies sind die spezifischen Fernegefühle.

Vermöge der Distanz zwischen Vordergründen und letzten Hinter-
gründen bietet sich aber in der Landschaft auch eine Möglichkeit,
welche die Kunst zuweilen besonders sucht. Die Möglichkeit näm-
lich, daß ganz große Vordergrunderscheinungen ohne abstufende
Mittel- und Hintergründe dicht neben perspektivisch vollkommen ver-
kleinerte Hintergrunderscheinungen derselben Art treten. Gewaltige
Berge des Vordergrundes prallen unvermittelt auf gewaltige Berge des
Hintergrundes, die sich indessen aus so großer Ferne ganz klein neben
sie hinzeichnen. Die Wirkung ist der denkbar eindringlichste, ver-
blüffendste Kontrast, der, selbst ein ästhetisch wichtiger Faktor, nun
auch der Größe des Großen noch zu doppelter Bedeutung verhilft,
da so Großes aus der Ferne so klein gegen die große Nähe absticht.
Und während sonst die Ferne unser Gefühl in die Raumtiefe zieht,
ist es bei dieser zwischengliederlosen, bei dieser »übertriebenen« Per-
spektive gerade die Nähe, die durch ihre Übergröße gegenüber der
verschwindenden Ferne noch näher auf uns heraufrückt; denn das
Große erscheint nahe, weil die Annäherung vergrößert. Der ganze
Raum schwillt somit, statt nach hinten zu wachsen, nach vorn, er
stößt mit Nahraumwirkungen auf uns ein, während er unser Auge zu
einem seltsam großen Sehwinkel zwingt. Es werden hier mit den-
selben Mitteln dieselben Resultate hervorgerufen wie auf Plakatbildern,
wo die Einzelgegenstände in übertriebener Perspektive dargestellt
werden, damit sie aus der Bildfläche heraustreten und uns anpacken.
Zuletzt erschließen sich sogar humoristische und karikaturistische
Wirkungen aus dem engen Nebeneinander von ganz groß und ganz
klein, wie sie auch in der karikaturistischen Zeichenkunst nicht selten
sind. (Über die übertriebene Perspektive in der Kunst sagt Vorzüg-
liches Jantzen, Zeitschr. f. Ästhetik VI, 1.)

Der Raum zwischen uns und den distanzierten Dingen ist in der
Folge aber auch das Entwicklungsfeld, die distanzierten Dinge selbst
sind die bewegenden Motive, die Ziele für unser dramatisches Ver-
halten in der Landschaft, für das Wandern. Die distanzierten Dinge
üben dramatische Spannungsreize, das Näherkommen durch die ihnen
vorgelagerte Raumweite hat dramatische Lösungsreize für den Wanderer.

Was spannt uns indessen an den distanzierten Dingen? Was treibt
uns ihnen näher? Es ist die Schönheit und Fremdartigkeit, die die
Distanz den Dingen verleiht. Die distanzierten Hintergründe sind um-
 
Annotationen