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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 14.1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.3620#0199
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BESPRECHUNGEN. 195

der Skizze zum ausgerundeten Gebilde strebt. Es ist jünger als die verschiedenen
Formen der Heldenverehrung, mit der es sich vereinigen, aber auch widerstreiten
kann, erst recht jünger als das Bedürfnis nach Übersicht von höher gelegenen Ge-
sichtspunkten, das durch geschichtliche Zusammenfassungen größerer Zeiträume
oder durch systematische Verarbeitung befriedigt zu werden pflegt, schließlich auch
jünger als die allgemeine Erweckung des Bewußtseins vom Werte der Individualität
und der Trieb zur Versenkung in die menschliche Eigenart, der heute noch so oft
als wichtigstes Kennzeichen historischen Sinnes gilt. Es bedeutet nicht Verneinung
jener vielfältigen Reize, die dem Gelegenheitsbekenntnis und andern Zeugnissen
einer aus dem Augenblick geborenen Fühlungnahme mit großen Menschen und
Werken eigen sind, und hat mit pedantischen Forderungen nach Vollständigkeit
nichts zu schaffen, aber es setzt die Überzeugung voraus, daß Ursprünglichkeit der
Anschauung und Konzentration der Betrachtung auch in den großen Formen des
wissenschaftlichen Schrifttums nicht verloren zu gehen brauchen.

Wenn die groß angelegte und durchgeführte Monographie für das moderne
Geistesleben überhaupt einige Bedeutung besitzt, so beruht diese nicht einmal so
sehr auf der Durchschlagskraft ihrer Muster, wie wir sie von der Hand eines Justi,
Dilthey, Haym, Erich Schmidt besitzen, — obwohl sie durch ihren Inhalt auf den
Stand der Kenntnis, das konkrete Urteil der Fachgenossen teils umwälzend teils
grundlegend gewirkt und die Arbeitsweise verschiedener Disziplinen entscheidend
beeinflußt haben —, wie auf der Tatsache, daß eine solche weit ausholende und
umfassende, tief in den Stoff eindringende und stets einen erhöhten Überblick
wahrende Behandlung ein neues, die moderne Bildung in ihren besten Strebungen
kennzeichnendes Gefühl für die Bedeutsamkeit ihres Gegenstandes und eine neue
Auffassung von den Erfordernissen und Möglichkeiten, diesem gerecht zu werden,
bezeugt.

Was für Lessing, Winckelmann, Herder und Schleiermacher erreicht und an
diesen offenbart worden ist, an der Gestalt zu vollenden, die unser Jahrhundert
überschattet und erhellt, auf die sich die wichtigsten geistesgeschichtlichen Dis-
ziplinen, alle Versuche einer Grundlegung der Ästhetik und der übrigen philoso-
phischen Wissenschaften zu berufen gewohnt sind, erscheint als eine bedeutsame
Kulturfrage, wird als höchste Bildungsaufgabe und wichtigste Bewährungsprobe der
beteiligten Wissenschaften und des ganzen Zeitalters begriffen.

Die Voraussetzungen für eine Darstellung Goethes, die eine selbständige allge-
meine Geltung sich verschaffende Ansicht seines Wesens zu entwickeln hat, haben
sich in unsern Tagen gegenüber früheren Generationen, die vor die gleiche Auf-
gabe gestellt waren, von Grund auf verändert. Wir stehen vor einem bereits ins
Unübersehbare vermehrten authentischen Material, dessen bisherige Verarbeitung
das Verständnis der Gesamtpersönlichkeit mehr zu verwirren als zu erhellen scheint.
Aber selbst wer über diese Schwierigkeiten — durch energische Ausscheidung
oder vollständige Aneignung — Herr geworden ist, hat noch nicht viel mehr als die
Anfangshindernisse beseitigt. So lange es eine Biographie, eine Künstlerpsychologie,
überhaupt geschichtliches Verständnis gibt, sind die Grundlagen der Betrachtung,
die Hilfsmittel der Erfassung, die Anhaltspunkte der Motivation, die Kategorien
und Maßstäbe mit größerer oder geringerer Naivität einem allgemeinen Erkenntnis-
stande entnommen worden, den eine weiter ausgreifende wissenschaftliche Richtung
repräsentiert, ohne daß damit das Wesentliche der individuellen Beziehung des
Darstellers zum Gegenstande gegeben ist. In der Geschichte des Goethebildes ist
der Gegensatz zwischen Naivität und gebildetem Bewußtsein, wie ihn Hegel auf-
gestellt hat, oder in neuerer Zeit die verschiedenen Lehren von den Typen der
 
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