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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 14.1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.3620#0200
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igß BESPRECHUNGEN.

geistigen Organisation, des Weltverhältnisses, der Einstellung als Beispiele anzu-
führen für die Eingliederung individueller Beobachtungen und Erlebnisse durch
anderweitig bewährte Erkenntnismittel in einen faßbaren Zusammenhang frucht-
barer Vorstellungen.

Heute sind nun weit auseinander strebende Richtungen innerhalb der modernen
Geisteswissenschaften zu Fragestellungen gelangt, deren Beantwortung oder Fort-
führung mit einer Darstellung des größten deutschen Lebens zusammenfällt, und
die auf der andern Seite dem Betrachter Goethes den Ausblick auf biographische,
künstlerische, geschichtsphilosophische, pädagogische und darstellerische Probleme
eröffnen. Sofern sie allgemeine Ergebnisse zutage gefördert haben, durch welche
die in der Geistesgeschichte wirkenden Zusammenhänge und Bedingungen klar-
gestellt werden, erwächst daraus auch für den auf die individuelle Einzigkeit ein-
geschworenen Biographen die Verpflichtung, sich mit diesen Fragen auseinander-
zusetzen, zum mindesten sich der Konsequenzen einer grundsätzlichen Ablehnung
bewußt zu werden.

Unmittelbar nach Goethes Tode klagte Wilhelm v. Humboldt, es sei ihm und
seinem Kreise »bloß dadurch, daß er nicht mehr unter uns weilt, etwas in unsern
innersten Gedanken und Empfindungen und gerade in unserer erhebendsten Ver-
knüpfung genommen«. Inzwischen ist das geschichtliche Bild Goethes eine Macht
geworden, deren Wirkung sich nicht in der konkreten Aufnahme seiner dichterischen
und denkerischen Produktion erschöpft, die nicht nur unser geistiges Dasein be-
herrscht, sondern auch unsere positive Auffassung vom Geistigen überhaupt in einem
noch höheren Grade von Innerlichkeit und Ausschließiichkeit, als beim Dichterischen
der Fall ist, geformt hat.

Den Gehalt dieser »erhebenden Verknüpfung« aussprechen heißt nicht die Er-
scheinung Goethes als Anlaß zum Vorbringen angesammelter Beschwerden miß-
brauchen und die eigene Kulturkritik mit dem Namen Goethes decken. Aber so-
lange die Gestalt Goethes die bildungsgeschichtliche Bedeutsamkeit, die wir ihr zu-
erkennen, besitzen wird, solange wird auch der Darsteller dieser Gestalt notge-
drungen zum Richter seiner eigenen Zeit, zum Fortleiter der Hauptströme ihrer
Geistesarbeit. Wenn nicht mehr die Notwendigkeit gefühlt werden wird, bei dem
Aufbau des Goethebildes sich zu den Grundtatsachen unserer Bildung in ein zu-
gleich unmittelbares, zugleich kritisches Verhältnis zu setzen, dann wird man schon
in dieser Tatsache ein Symptom für eine gänzlich veränderte Stellung der Nation
zu Goethe erblicken dürfen.

Niemand wird behaupten, daß die Anforderungen an eine Darstellung Goethes,
wie sie sich aus der Erkenntnis der geschilderten Sachlage ergeben, aus dem Pro-
blemstande derjenigen wissenschaftlichen Disziplin heraus entwickelt werden können,
in deren Bereich die Bearbeitung des Hauptteils von Goethes Lebensäußerungen
fällt. Die literaturgeschichtliche Forschung ist nicht planlos verfahren. Sie hat
Arbeitsprogramme aufgestellt und teilweise auch verwirklicht, deren Weite auch
den kleineren und kleinlichen Teilbeiträgen etwas von der Würde ersetzte, die die
meisten an sich vermissen ließen, und für einen nicht gerade übelwollenden
Beobachter mußte es schon seit längerer Zeit erkennbar geworden sein, daß sich
aus der eindringlichen Arbeit ganzer Forschergenerationen eine noch ungestaltete
Goetheauffassung herausbildete, die sich über das Niveau der formulierten Äuße-
rungen beträchtlich erhebt. Wenn es trotz allen so oft ausgesprochenen Ver-
heißungen und Wünschen nicht gelungen ist, auf der Grundlage dieser Forschungen
und im Zusammenhange mit den theoretischen Interessen, die die Mehrzahl der
Literarhistoriker von Rang und Ruf beherrschen, ein groß angelegtes, die Fülle der
 
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