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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 14.1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.3620#0279
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Bemerkungen.

Das Ästhetische und die Kunst.

Von

E r i c h M a j o r.

Die Grenzlinie zwischen dem Ästhetischen im weiteren Sinne und dem Künst-
lerischen im engeren ist noch nicht gefunden. Die beiden Gebiete berühren sich,
aber sie decken sich nicht und das eigentliche Wesen des Unterschiedes ist nicht
vollständig klargestellt. Ein kunstgewerbliches Ornament beispielsweise, die Kurven
einer Tapete, die feinen Verzahnungen eines Uhrwerks sind sicherlich ästhetisch,
jedoch niemals Kunstwerke. Bis ins Primitivste hinunter sehen wir, wie die Menschen
versuchen, ihre Umgebung ästhetisch zu gestalten. Jeder empfindet sofort Miß-
behagen, wenn etwa in einer Bücherreihe das mittlere Buch das größte wäre und
die daneben stehenden kleiner. Ebenso spüren wir, selbst in der Haltung unseres
Körpers, im Verhältnisse zu uns selber und zu unserer Umgebung unzweifelhafte
Gesetze des Ästhetischen, die nicht verletzt werden können, ohne sofort das schärfste
Mißfallen, ja eine sehr oft unverhältnismäßige Mißbilligung hervorzurufen. Ganz
anders und scheinbar getrennt davon ist das Künstlerische. Im Kunstwerk wird ein
gewisser Grad von Unregelmäßigkeit, von Willkürlichkeit, ja von Dissonanz beinahe
gefordert. Jedes Kunstwerk, das rein ornamental gestaltet wäre, sich ganz nach
dem Gesetze richten würde, das sich in den Ausschmückungen eines Tischläufers
ausdrückt oder in der Schwingung und Biegung einer Lampe, wäre rettungslos
der Langweile preisgegeben. Nicht die geistige Idee bedingt den Unterschied.
Denn auch ein Ornament kann in seiner Art und durch mystische Deutungen idealen
Wert erhalten und doch kein Kunstwerk sein. Es muß somit etwas anderes sein,
was diese Differenzierung und das innerste Wesen dieses Gegensatzes ausmacht.
Und da stoßen wir immer wieder auf die berühmte und noch immer als vollgültig
betrachtete Kantische Lehre von dem interesselosen Wohlgefallen als Kriterium des
Ästhetischen. Schon Nietzsche hat es mit Recht als Unding bezeichnet, daß Schön-
heit keine Begierden erwecken und nur eine Art von Kastratengefühl, ein ärmliches,
blasses und dennoch süffisantes Behagen hervorrufen solle. Die Kantische Definition
ist rein negativ. Sie will nur besagen, daß man keine praktischen Ziele beim reinen
Anschaueii des Ästhetischen verfolgen könne, daß sich das Schöne vom Angenehmen
unterscheide. Den positiven Inhalt des Kunstgefühls hat jedoch Kant nicht gefunden
und er gibt nur eine Abgrenzung und noch dazu eine sehr zweifelhafte, da ja bei-
spielsweise die Gegenstände chinesischer Kunst zum größten Teil praktische Neben-
ziele verfolgen, ohne jedoch zu sagen, was innerhalb der Grenzen der Interesse-
losigkeit das Besondere und Spezifische des Ästhetischen ausmacht.

Wenn man diesen Begriff überhaupt annimmt, so gibt es nur ein Gebiet, für
das er wirklich in gewissem Maße zu passen scheint, nämlich das Ästhetische im
weiteren Sinne. Wenn ich die Verflechtungen einer Sessellehne betrachte, so ist
diese Regelmäßigkeit gewiß ästhetisch und wirkt im Sinne eines Wohlgefallens, das
 
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