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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 14.1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.3620#0312
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308 BESPRECHUNGEN'.

üches geändert worden; nur das Schlußkapitel des zweiten Bandes: Das Wesen des
Stilwerdens und die historische Stellung der gegenwärtigen Kunst, ist umgearbeitet
und in seinen Grundtendenzen schärfer charakterisiert worden. Die Zahl der Ab-
bildungen ist beträchtlich vermehrt worden, wobei gleichzeitig einige Abbildungen
der ersten Auflage durch bessere ersetzt worden sind.

Zur Sache selbst ist folgendes zu bemerken. Man kann eine Stilgeschichte
auf den Erscheinungen aufbauen, die den jedesmaligen Stil am klarsten und ein-
deutigsten verkörpern. Dadurch treten die Gegensätzlichkeiten der einzelnen Stile
scharf hervor, und es ist möglich, die Kunstgesinnungen der verschiedenen Epochen
reinlich voneinander zu scheiden.

Daneben steht eine zweite Betrachtungsweise, die das Hauptgewicht nicht auf
die Stilhöhen, sondern auf die Stilübergänge legt. Um es ganz kurz an einem Beispiel
zu erläutern: die erste Betrachtungsweise würde das Kunstwollen der italienischen
Renaissance in Raphael gipfeln lassen und ihm dann im Barock etwa einen Meister
wie Rubens als scharfen Widerpart gegenüberstellen; die zweite Art der Darstellung
würde die Renaissanceideen durch die Spätwerke Michelagniolos unmerklich in das
barocke Kunstwollen überleiten. Diese Auffassung beherrscht den Entwurf voii
Colin-Wiener.

Sie hat ihre unverkennbaren Vorzüge. Indessen hat sie auch ihre Bedenken,
besonders in einer Stilgeschichte, die sich in erster Linie an den Laien wendet.
Denn dem Laien fällt es ohnehin schon schwer, die einzelnen Stile so weit zu über-
sehen, daß er sie, wenigstens in ihren Hauptzügen, voneinander scheiden kann.
Findet er nun die Gegensätze verwischt und statt ihrer die Übergänge betont so
sieht er sich einer ungegliederten Masse ineinander zerfließender Kunstanschauunoen
gegenüber, auf die der Kantische Ausspruch zutrifft: Anschauungen ohne Begriffe
sind blind.

Aber Cohn-Wiener geht noch weiter. Er wünscht die Aufhebung unserer bis-
herigen Stilbezeichnungen zugunsten von drei Kategorien, die als antike, mittelalter-
liche und neuzeitliche Stilbewegung bisher getrennte Epochen als einheitlich in ihrem
Kunstwollen zusammenfassen. Jede dieser drei Epochen würde dann, wenn auch
in veränderter Form, dasselbe Bild dreier Entwicklungsstufen aufweisen. Die erste
Stilstufe ist die der tektonischen Form. Sie bezeichnet einen Stil, der bestimmt wird
durch das Gesetz der Zweckmäßigkeit auf der einen, der Gesetzlichkeit auf der
anderen Seite. Die Zweckkünste, Architektur und Kunstgewerbe, sind die eigent-
lichen Künste dieser Epoche; Malerei und Plastik werden als freie Künste nicht
gepflegt, sondern dienen nur zum Schmuck und zur Bereicherung der Architektur,
in deren Dienst sie gestellt werden. Der Zweckgedanke beherrscht die gesamte
Kunstübung. Man baut jeden einzelnen Bau streng dem Zweck gemäß, für den er
bestimmt ist, und zwar erstreckt sich der Zweckgedanke auf den Außen- wie auf
den Innenbau, bis auf die einzelnen Teile. Das Prinzip der Gesetzmäßigkeit spricht
sich in der natürlichen Verwendung der Formen aus. Man setzt beispielsweise
nicht willkürlich beliebige Schmuckformen auf, sondern läßt diese organisch aus den
betreffenden Bauteilen herauswachsen. Man empfindet Wand und Decke als Raum-
begrenzung und sucht sie nicht durch plastische oder malerische Tiefendarstellungen
ihres ursprünglichen Sinns zu berauben. Die Säule wird ihrer Bestimmung gemäß
vor allem als Träger empfunden, wie man denn überhaupt die einzelnen Funktionen
der Bauteile, das Tragen und Lasten, das Begrenzen und Ordnen in peinlicher Klar-
heit zum Ausdruck bringt.

Freier verfährt die zweite Stilstufe, die pathetisch bewegte Form. Ihr Element
ist die Bewegung, mittels der sie nicht nur die einzelnen Teile eines Baues zur
 
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