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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 14.1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.3620#0313
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BESPRECHUNGEN. 309

einander, sondern den ganzen Bau selbst zu seiner Umgebung in rhythmische Be-
ziehung zu setzen sucht. »Der Bau ist kein Ausschnitt aus dem Weltraum mehr,
sondern ein Teil seiner Ausdehnung. ... So ist der Bau selbst über seine Grenzen
in den Raum erweitert, um mit ihm zusammenzuwirken, durch ansteigende Gewölbe,
lichte Kuppeln oder Raumtiefe vortäuschende Deckengemälde im Innern, durch
Vasen, Statuen und Türme über der Dachlinie gegen den Luftraum und durch Stufen-
bauten, Arkaden und Alleen mit seiner Umgebung zusammengeschlossen. Zugrunde
liegen Gefühle, die durch die Kunst seelischen Stimmungen Ausdruck geben wollen.«

Die dritte Stufe, die richtungslos bewegte Form, »treibt diesen Reichtum ins
Phantastische«. Die Bewegung wird mit allen Mitteln ins Ungemessene gesteigert,
»Hemmungen durch den Zweck oder die Disziplin bestehen nicht mehr«, und so
entspricht »jeder Kurve eine Gegenkurve, jede Tiefe hebt eine Höhe auf, Bewegungen
verflechten sich und lösen sich in Wirbeln«. Das gleiche Spiel wird mit dem kunst-
gewerblichen Gerät getrieben, bei dem jeder Zweckgedanke völlig ausgeschieden
ist, um einem Spiel mit Ornamenten, mit malerischen Gegensätzen aller Art, schließ-
lich mit dem Material selbst zu weichen.

Cohn-Wiener ordnet der ersten Form den dorischen Stil des griechischen Alter-
tums, den romanischen des Mittelalters und den frühesten Renaissancestil in Italien
ein. Dieser konstruktive Stil entsteht, wie er bemerkt, jedesmal aus einer »dumpfen
Vorform, die schon das tektonische Gefühl, aber noch keine tektonische Gliederung
hat, die Teile schon sondert und festhält, aber noch nicht funktionell durcharbeitet.
Dahin gehören der Dipylonstil, der frühchristliche Stil, und die Profangotik in
Italien«.

Der zweiten, pathetisch bewegten Form ordnet er den hellenistischen Stil mit
dem frühen römischen, die hohe Gotik und das Barock zu. Der dritten, richtungslos
bewegten Form endlich fügt sich der spätantike Stil, die Spätgotik und das Rokoko ein.

Indessen, so großartig der Gedanke an sich ist, das unübersehbare Vielerlei
der bisherigen Stilbestimmungen in drei große Kategorien umzuwandeln, die zudem
so gefaßt sind, daß sie sich wie eine große Wellenbewegung immer wiederholen,
so scheint mir dieser Gedanke doch kaum in der hier vorgeschlagenen Form und
wahrscheinlich überhaupt nicht praktisch durchführbar zu sein. Wenigstens nicht
ohne eine außerordentliche Vergewaltigung des Kunstwollens selber. Und doch
ist es gerade diese, die der Verfasser durch seine neue Stilbestimmung zu über-
winden hofft.

Allein das Unzureichende seiner eigenen Kategorien zeigt sich vor allem darin,
daß zwar allenfalls die Früh- niemals aber die italienische Hochrenaissance sich einer
derselben einfügen läßt. Der Verfasser macht auch gar nicht erst einen solchen
Versuch, sondern geht stillschweigend über dieses Versagen hinweg.

Ferner läßt sich auch schon die Malerei der Frührenaissance nicht mehr unter
den Begriff der tektonischen Form bringen, da, von allem anderen ganz abgesehen,
doch schon Masaccio mit seinen Fresken eine Wanddurchbrechung und Tiefen-
wirkung gibt, wie sie der von dem Verfasser selbst gegebenen Erläuterung, daß
=die Wand in diesem Stil Fläche bleibt«, nicht entspricht.

Endlich aber scheint mir auch die hohe Gotik nicht in die Kategorie der
pathetisch bewegten Form zu passen, denn wenn auch zuzugeben ist, daß der Be-
wegung in diesem Stil sehr viel Freiheit gelassen wird und daß er seelischen
Stimmungen Ausdruck verleiht, so darf man doch keinen Augenblick übersehen,
daß die Architektur der Gotik niemals ihre Bauten wie das Barock zielbewußt mit
der ganzen Umgebung zusammenpaßt oder gar die Umgebung danach anlegt, und
daß die Malerei der Gotik eine Tiefenwirkung im Sinne des Barocks gar nicht kennt.
 
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