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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 31.1937

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https://doi.org/10.11588/diglit.14170#0089
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BESPRECHUNGEN

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überblick des gesellschaftlichen Lebens zu gewinnen. Während die geschichtswissen-
schaftliche Betrachtung die Dinge in ihrem Wandel und Fortschritt zeigt, gibt diese
Untersuchung eine Darstellung der inneren Beziehungen zwischen zwei aufeinander-
folgenden und charakteristisch voneinander unterschiedenen Oesamtformen des gesell-
schaftlichen Aufbaues. Es ist weiterhin sehr verdienstlich, daß in diesem weitgesteck-
ten Rahmen das kulturelle Leben in allen seinen Formen dargestellt wird, und es be-
deutet einen großen Fortschritt gegenüber den üblichen kulturphilosophischen Dar-
stellungen, daß hier einmal in ausführlicher Breite das kulturelle Leben in seiner
ganzen Verflochtenheit mit der vielfältigen gesellschaftlichen und sozialen Wirklich-
keit geschildert wird. Die Kultur selbst erscheint dabei nicht mehr als ein bloßer
Zusatz an Bildungsgütern zu einem sich ganz selbständig vollziehenden Sozialleben,
sondern sie enthüllt sich als ein wesenhafter und schöpferischer Ausdruck eben dieses
Lebens selbst. Endlich muß betont werden, daß mit vollem Recht auch die theoretische
Erfassung dieses kulturellen Lebens von den Autoren wiederum als ein Ausdruck
dieses sozialen Lebens mit erfaßt wird. Die Deutung und das Verstehen der kulturellen
Leistungen tritt damit nicht als ein fremdes dieser geistigen Wirklichkeit gegenüber,
sondern erscheint in lebendigem innerem Zusammenhang mit ihr.

Wenn man in dieser Weise das Ganze der Leistung der Autoren beurteilt, wird
man über manche, vielleicht nicht ganz zutreffende Äußerung hinwegsehen dürfen;
denn eine so umfassende Forschung kann naturgemäß nicht im einzelnen die volle
Exaktheit erstreben. Nicht ohne Bedenken allerdings ist es, wenn die Methode der
Autoren, soweit sie bewußt formuliert wird, geradezu in einem gewissen Gegensatz
steht zu ihrer eigentlichen Leistung. Wollte man die Untersuchung als Ganzes metho-
disch charakterisieren, so könnte man mit einem Ausdruck der Autoren selbst am
besten sagen: sie ist die Analyse einer „Leitwertverschiebung" (S. 254) im Gesamt-
wandel des gesellschaftlichen Lebens vom Absolutismus zur Bürgerlichkeit hin. Die
Autoren haben aber den unseligen Ehrgeiz, diese Deutung der Totalität des Ge-
schehens in das Schema der „Dialektik" zwängen zu wollen. Was eigentlich unter
dialektischer Methode verstanden werden soll, wird klar und präzise nicht entwickelt.
Im allgemeinen handelt es sich um eine abgeblaßte verbürgerlichte Form der marxi-
stischen Unterbau-Überbau-These, wenn auch Äußerungen anzutreffen sind, die dem
genau widersprechen (vgl. S. 210, 215, 227 f., 276 f., 297 f. und 352).

Es ist bestimmt verdienstlich, wenn die Autoren bei der Untersuchung des „Stil-
wandels" jener Epoche sich nicht auf die rein künstlerischen Phänomene beschränken,
sondern zeigen wollen, wie dieser Wandel mit der Neuformung des ökonomischen,
industriellen und politischen Lebens zusammenhängt. Es kommen dabei durchaus
einleuchtende Beispiele zutage, nur aber muß es auf das genaueste vermieden werden,
die ökonomische produktionsmäßige und politische Situation als die Ursache oder
auch nur den bestimmenden Grund der geistigen Wandlungen anzusehen. (Für die
Beurteilung des Zusammenhanges der neuen Kulturgestalt mit dem ökonomischen
Leben sind zu vergleichen: S. 31, 72, 100, 112, 245, 351, 402. Der einseitige produk-
tionsmaterialistische Standpunkt der Autoren zeigt sich besonders auf S. 23, 81, 187.
Interessante Bemerkungen zum Verhältnis von Politik oder Macht zur Kultur finden
sich auf S. 41, 74, 114 und besonders 255 und 382.)

Die Darstellung gliedert sich in 5 Kapitel, die den Aufstieg des Bürgertums, den
Kampf des Bürgertums um die ökonomische Selbständigkeit, den Kampf des Bürger-
tums um die politische Freiheit, um die soziale Gleichheit und um eine soziale Un-
gleichheit, aber mit bürgerlicher Superiorität durch die Steigerung des Menschlichen
umfassen. Leider fehlt in dem Werk eine systematische Zusammenstellung der Haupt-
punkte, in denen der beschriebene Wandel sich zusammenfaßt. Ein ungefährer Über-
 
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