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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 31.1937

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https://doi.org/10.11588/diglit.14170#0108
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BESPRECHUNGEN

meierzeit" etikettiert wird, und die „künstlerische Gesamtbeurteilung", die wertvolle
Beobachtungen über die Darstellungskunst dieser Bühnenvirtuosin enthält.

Das einleitend von der Verfasserin gegebene Stimmungsbild aus der Zeit des
Vormärz ist auf die bekannten Züge von dem selbstzufriedenen, genügsamen, im
Privaten, Persönlichen und Gesellschaftlichen aufgehenden Bürgertum abgestellt,
gegen dessen Richtigkeit, wie der um den Begriff des „Biedermeier" neuerdings aus-
getragene Streit (Deutsche Vierteljahrsschr. 1936 H. 1; Dicht, u. Volkst. 1935
H. 2 3 4) zeigt, berechtigte Zweifel erhoben werden können. Denn die politische Ver-
haltenheit des Bürgertums zeigt bei einem Großteil nicht nur jene resignierenden und
passiven Züge des Sichabfindens mit den Verhältnissen, sondern zugleich auch ein
Abwarten voll innerer Spannung, eine Bereitschaft zur Willenskundgebung und Tat-
handlung. Der Erfolg der bis 1840 verbotenen „Egmonf'-Aufführung (Bobbert S. 75)
ist ein Beispiel für die „sogenannten politischen Demonstrationen bei theatralischen
Vorstellungen", gegen welche noch Hebbel aus künstlerischen Gründen seine Be-
denken vorbringt. Dies Hereinragen gesellschaftlicher und politischer Willensrich-
tungen in die Welt der Kunst ändert jedoch nicht die Grundstruktur der von den
Raupach, Halm, Birch-Pfeiffer und anderen Unterhaltungsschriftstellern getragenen
Theaterwelt. „Die Helden und Heldinnen der zeitgemäßen Stücke blieben Klischee-
figuren-', die dem Schauspieler nur Anlaß wurden, seine Ausdrucks- und Darstel-
lungskunst voll und eigenbestimmt zu entwickeln (Bobbert S. 11). Es ist von der
Verfasserin durchaus richtig gesehen, wenn sie das neu heraufkommende Virtuosen-
tum verwurzelt sein läßt im Zeitgefühl, das in den durchgebildeten gesellschaftlichen
Formen und Konventionen vorbildliche ästhetische Werte sah, und in der Geistes- und
Seelenlage, die ihren Ausdruck in den rührseligen, gefühlhaften Bühnenfiguren der
damaligen Dramatiker fand. Auf die Gefühlswelt dieser Gestalten war dem Ausmaß
und dem Gehalt nach das seelische Eigengewicht der Hagn abgestimmt, hier wurde
sie in ihrer Kunst Vertreterin des reinen Zeitgeschmacks (Bobbert S. 125 ff.). Es
hätte aber darüber hinaus an ihrem Beispiel gezeigt werden müssen, wie dieser Mangel
großer dramatischer Aufgaben auf die Entwicklung eigener Anlagen und Formkräfte
hin drängte, und welche Bedeutung bei den zahlreichen gesellschaftlichen Beziehungs-
verhältnissen die soziologischen Faktoren für die Ausbildung ihrer „Manier" und
ihrer individuellen Darstellungsart hatten. Dabei wäre auch deutlich geworden, daß
die Eigenart der gepflegten Hagnschen Darstellungskunst in ihrer formalen Seite
durch den Begriff des Biedermeier eigentlich nicht getroffen wird, sondern daß hier
überepochale Formwerte, die im französischen Theater, und damit auch an deutschen
Höfen und Hof theatern schon lange gepflegt wurden, auf die deutschsprachige Bühne
übergingen. Die Biedermeierzeit gab nur den fruchtbaren Boden für eine weit-
reichende Wirkung dieser neuen Schauspielform ab, die nicht an eine Zeitepoche ge-
bunden werden kann. Statt solcher Festlegung wäre es sicher fruchtbringender ge-
wesen, an dem Spiel der Hagn die von der zeitgenössischen Kritik betonten Merk-
male, also die Stilphänomene ihrer Schauspielkunst aufzuzeigen und durch einen Ver-
gleich mit der Kunst ihrer Partner einen Beitrag zur Schauspielästhetik dieser Zeit
zu geben.

Damit berühren wir den zweiten, uns interessierenden Punkt: das Künstlertum
der Hagn und seine Objektivationen im Spiel. Wenn auch durch das Fehlen direkter
Zeugnisse (die sicher wertvollen Tagebücher bis 1836, deren Existenz mehrfach be-
zeugt ist, sind der Verf. nicht zugänglich gewesen) die innere Entwicklung nur
schwer nachgezeichnet werden konnte, hätte m. E. wenigstens versucht werden müssen,
die reichhaltige Darstellung des äußeren Lebens durch eine Aufdeckung des seeli-
schen Reiferwerdens und künstlerischen Wachsens zu ergänzen. Charlotte von Hagn
 
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