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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 31.1937

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Kasel, Kurt W.: Über Rilkes "Neue Gedichte"
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https://doi.org/10.11588/diglit.14170#0161
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OBER RILKES „NEUE GEDICHTE" 145

weder das Christentum als solches zu erhalten oder „Gott" neu zu finden,
d. h. neu zu definieren, anders zu sehen, auf neue Art innerlich zu erleben.

Durch eben jene Zucht des Christentums bildete sich andererseits noch
eine Fähigkeit, die es scheinbar möglich machte, eine Seele wirklich von
einem Körper zu trennen, und jene gleichsam wegzuschenken an anderes.
Wie Wasser die Innenform des Kruges annimmt, so tastete die eigene Seele
das Innen eines Fremden ab. Es ist eine Fähigkeit, sich ganz ohne Rest,
ohne alles Eigene, Bisher-gewesene, Selbst-erlittene einzufühlen in fremde,
vergangene Zeiten, fremde Menschen, in Tiere und alle Dinge. So wurde
man sich plötzlich klar über das Wesen früherer Kulturepochen und ihrer
Menschen. Man hatte einen neuen Sinn entwickelt, vermöge dessen man
nicht mehr in der Geschichte nur äußere Aufeinanderfolge einzelner poli-
tischer Ereignisse sah, sondern innere Zusammenhänge, Wesentliches,
Dauerndes, Ewigwiederkommendes und damit Ewig-gültiges.

Dieser Art sind Rilkes Gedichte über die Griechen, aus der Geschichte
des Alten Testaments und aus dem Mittelalter.

Nicht Geschehnisse und große entscheidende Augenblicke aus dem
Leben des griechischen Volkes etwa geben sie, sondern griechisches Sein,
eine seelische Wirklichkeit. Was von Griechentum auf uns gekommen ist,
erscheint wie ein „Archaischer Torso Apollos". Das Haupt mit den leuch-
tenden Augen fehlt zwar, aber am ganzen Körper des Torsos ist keine
Stelle, die nicht sieht, die nicht lebt! Alles Schauen, alles Leben ist nur
„zurückgeschraubt", verhaltener; aber es „hält sich und glänzt". Und wer
mit diesem Leben in Berührung kommt, wer diesen Leib sieht, der erhält
einen bestimmenden Einfluß. Über diese Welt hinweg zu gehn, als wäre
sie nicht gewesen, ist unmöglich; man wird beim Betrachten nur eines
ihrer Werke den Zwang nicht mehr los: „Du mußt dein Leben ändern".
Diese Welt ist nicht leer, hohl, scheinend, einseitig geistig oder körperlich;
sie ist ganz, einheitlich-vielgestaltig und eine Menschenwelt, obwohl es
kein andres Mal so herrliche, hohe Götter gab.

Andrer Art ist die Welt des Alten Testaments. Sie kreist nicht wie die
griechische um vergottete Menschen, sondern um einen transzendenten,
geistigen, einzigen Gott. Dieser Gott führt nur dieses eine Volk; seine
Mittler sind die Propheten. Als einer dieser Auserwählten und Berufenen
erstand schließlich auch Christus aus dieser Welt. Und das Christentum
wiederum — oder richtiger die katholische christliche Kirche — war die
Mitte der Welt des Mittelalters.

Erbe dieser drei Kulturkreise ist unser Heute. Jedem von ihnen ist es
irgendwie verpflichtet, von jedem erhielt es entscheidende, bestimmende
Züge. Alle drei sind verschieden untereinander und verschieden von uns;
aber alle drei sind in uns. Aus dieser inneren Verwandtschaft heraus

Zcitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft XXXI. 10
 
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