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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 31.1937

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Kasel, Kurt W.: Über Rilkes "Neue Gedichte"
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https://doi.org/10.11588/diglit.14170#0173
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ÜBER RILKES „NEUE GEDICHTE

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adligen Geschlechts", von hoher geistiger Liebe beseelt. Aber im Grunde
ist es immer nur ein und dieselbe Gestalt. Sie ist kein lebendiges Weib,
sondern ein Typ. Mit ihr ist immer die Atmosphäre alter, feudaler Parke,
ernst-verschlossener Palais'. Und sie gehören auch, diese Damen und
Herren, zu jenen alten Parken mit ihren alten Bauten, die einst Mittel-
punkte des geselligen Lebens waren. Jetzt aber, im „Zeitalter der Menge",
sind sie eben Menschen, die zu spät geboren wurden. Sie werden Einsame
und Dichter. Für sie reden diese Zeugen der Vergangenheit noch; aber
leise, mit unendlicher Wehmut: „alles weiß noch, weint noch, tut noch
weh" („Der Pavillon"). Sie sitzen nachts allein daheim und lesen alte
Briefe, „verlassene Papiere" („Der Junggeselle"). Sie fühlen sich in den
Briefschreibern, den Vorfahren und Vätern ihres Geschlechts, und fühlen
diese in sich. „Er konnte sich verlieren an sein Geschlecht" ... „ihm schien,
er hätte ihren, sie aber hatten alle seinen Stolz". Sie leben nicht in ihrer
gegenwärtigen Zeit; sie „zerren sich fiebernd andre Zeiten weg". Sie füh-
len, sehen um sich

,,... diese Herrn
in Kammerherrentrachten und Jabots,...
und diese Damen, zart, fragile, doch groß
in ihren Kleidern ..."

(„Im Saal").

Wenn man das alles auch nur eine Vorliebe Rilkes für diese frühe-
ren Menschen und ihre Kultur nennen will, so bezeichnen doch gerade
alle Vorlieben und Neigungen eines Menschen Wesen; obgleich sie es
nicht ausmachen oder ganz enthüllen. So mag auch diese „Vorliebe" das
Wesen Rilkes teilweise zeigen, ohne es aber etwa ganz zu erfassen oder zu
erklären. Wie jener Maler in dem Gedichte „Der Berg" hat Rilke „sechs-
unddreißigmal und hundertmal" ein Bild zu malen versucht, immer wie-
der „von Gestalt gesteigert zu Gestalt". Nicht sich wollte er malen, son-
dern der Welt um sich wollte er Gestalt geben. Doch am Ende weiß er,
daß dies nie „teilnahmslos und weit und ohne Meinung" geschieht und
möglich ist, daß er sich hinter allem, „hinter jedem Spalt", selbst hebt,
daß er in allem irgendwie und irgendwie tief drin sein muß. Er weiß, daß
wir heute das Leben anders verstehen als jene:

„Sie wollten blühn,
und blühn ist schön sein; doch wir wollen reifen,
und das heißt dunkel sein und sich bemühn."

— Und auch in dieser Rilkeschen Welt gibt es noch Berufung („Die Be-
rufung"). Auch in das Versteck dieser „innen verwirrten" Menschen tritt
noch „der Hohe, sofort Erkennbare: der Engel" ein. Auch hier ist nicht
alles nur Traum und wehmütige Erinnerung, rückwärtsgewendete, ziellose
 
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