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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 31.1937

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Kasel, Kurt W.: Über Rilkes "Neue Gedichte"
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https://doi.org/10.11588/diglit.14170#0174
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KURT W. KASEL

Sehnsucht. Man muß sich bei Rilke, wie bei allen seiner Zeit, vor allem
Absoluten und Unbedingten hüten. Sie hatten vieles, vielleicht zu vieles, in
sich. Sie lebten auf einer Grenze und in einem Übergang; an einem Ende,
wie schon gesagt.

Rilke versuchte, diese Vielfalt der Welt zu fassen. Zeigen, schildern,
wie sie „wirklich" war, konnte er sie nicht; denn er war kein Romanschrift-
steller, sondern ein Sänger. Und als solcher wollte er das auch nicht. Er
glaubte nicht, wie viele damals, daß die Welt eine große Maschine wäre;
er glaubte an einen inneren, geistigen Zusammenhang des Alls. Vermöge
dessen konnte er wohl nur sich enthalten, ohne doch vom All getrennt
zu sein; denn

„ ... Sich-enthalten heißt: die Welt da draußen
und Wind und Regen und Geduld des Frühlings
und Schuld und Unruh und vermummtes Schicksal
und Dunkelheit der abendlichen Erde
bis auf der Wolken Wandel, Flucht und Anflug,
bis auf den vagen Einfluß ferner Sterne

in eine Handvoll Innres zu verwandeln" („Die Rosenschale").

Ich weiß nicht, ob schon jemals von einem Dichter der Raum so wesen-
haft, so seiend empfunden worden ist. Raum ist bei Rilke nicht etwas Fer-
nes oder Unbestimmtes, das man hinnimmt ohne Frage, dessen man sich
garnicht bewußt wird. Rilke fühlt sich hineingestellt in den Raum, fühlt
eine Beziehung zwischen sich und ihm und allem, was noch im Räume ist:
— aber im Räume ist eben alles! Wie Gott i n allem ist, so ist der
Raum um alles. Die Welt ist unendlich; aber durch den Raum wird alles
zusammen und nahe gehalten, weil durch ihn alles miteinander in Be-
ziehung steht: durch ihn wird und bleibt alles ein „Innen". Durch das
Gefühl für den Raum, — vielleicht müßte man sogar sagen: durch das Er-
lebnis des Raumes —, tritt der Mensch in ein engeres, näheres, inneres
Verhältnis zu Umgebung und Welt, ja, umspannt er alle Umgebung und
Welt: „Sind nicht Sterne fast in deiner Nähe, und was gibt es, das du
nicht umspannst..." („Der Käferstein").

> Die „Mitte aller Mitten" aber, der „Kern der Kerne" ist „Gott", um
den Rilke immer kreist, an den er immer wieder sich gebunden fühlt. Wer
ein Gottsucher ist, der sucht Gott lebenslang und findet ihn bald hier, bald
anderswo; und wird doch immer wieder fort- und umgetrieben, suchend,
kreisend um „den uralten Turm", den „Kern", die „Mitte", — um ein
ewiges Gesetz des Seins, das er „Gott" nennt.
 
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