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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 31.1937

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Wiegand, Julius: Der Gegensatz als Mittel des Aufbaus im lyrischen Gedicht
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https://doi.org/10.11588/diglit.14170#0192
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JULIUS WIEGAND

Midas verwandeln, was sie berühren; aber Midas in Gold, der Dichter in
Gedichte. Fall d nicht sehr häufig, e) Es wird festgestellt, daß die Gegen-
sätze sich vereinigen lassen. Schiller, „Die Geschlechter" zeigt, wie der
Gegensatz von Jüngling und Jungfrau in Harmonie sich löst. Ähnlich
Goethe, Diwan, „Ob ich Irdsches denk und sinne". Auf die Formel „a
kann b ersetzen" lassen sich bringen: Schiller, „Moralische Kraft",
„Pflicht für jeden". Es scheint, daß die Harmonie des Gegensätzlichen
aus dem Weltgefühl der Klassik erwächst.

7. Welche der eben aufgeführten Absichten der Dichter verfolgt, kann
der Leser nicht immer ohne weiteres wissen. Der Dichter muß ihn dann
führen (notwendig ist dies z.B. in Fall d und e), muß selbst sein Urteil
über die Gegensätze abgeben. Wir kommen damit zur Frage des
„Urteils" über die Gegensätze. Es sind zahlreiche Formungsmöglich-
keiten vorhanden, a) Wenn die Deutung selbstverständlich ist (von Bes-
ser, „Sterbende Climene", s.o.), wenn der Dichter den Leser zum Nach-
denken anhalten will (Meyer, „Der Marmorknabe"), wenn der Dichter
einer Entscheidung ausweichen will (George, „E. R.", Jahr der Seele,
S. 81), so stellt er die Gegensätze kommentarlos nebeneinander. Meyer
bedient sich dieses Verfahrens öfter, besonders in erzählenden Gedichten,
vermutlich geleitet vom Grundsatz der epischen Objektivität, wie ihn der
Realismus aufstellte. Dabei ist es durchaus möglich, daß die beabsichtigte
Deutung über den wörtlichen Sinn hinausgeht und bildlicher Deutung
zustrebt: Goethes „Meeresstille und Glückliche Fahrt" will nicht nur-zwei
Bilder aus dem Seefahrerleben geben, sondern des Dichters Gefühl der
Zuversicht in den Sinn des Daseins oder seines Daseins aussprechen.
Selbst bei Deutbarkeit in mehrfachem Sinne kann der Dichter sich zurück-
halten und durch dies Schillern dem Gedicht besonderen Reiz geben:
Meyer, „Nach einem Niederländer", b) Wenn einer der Gegensatzbe-
griffe auf Kosten des andern erhoben oder herabgesetzt werden soll, kann
die Meinung des Dichters schon dadurch ausgedrückt werden, daß er den
wichtigeren Begriff an die zweite Stelle, an den Schluß rückt (beim ein-
schichtigen Typ): Goethe, „Auf dem Land und in der Stadt" (s.o.).
c) Das Urteil ist in die Gegensatzbegriffe eingebaut: Goethe, „Die Jahre
nahmen dir" im Diwan; das Gerippe des Gedankengangs ist so: „Es
blieb dir nichts Besondres. Antwort: Mir blieb genug: Idee und Liebe."
Dies Verfahren ist sehr häufig, d) Das Urteil liegt in der Wortwahl, in
dem Gefühlswert der Synonymen; Schiller, „Die Antiken zu Paris": Die
Ablehnung des kriegerischen Raubs von Kunstschätzen liegt in „Siegs-
trophäen, mit den Waffen führen, Vandalen" usw. Dies eines der häufig-
sten Verfahren, e) Das Urteil liegt in der Überschrift: Goethe, „Soldaten-
trost". Seltener Fall, f) Sehr oft wird das Urteil ausdrücklich formuliert.
Es kann in einem einzelnen Wort liegen: Schiller, „Kind in der Wiege":
 
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