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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 31.1937

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Wulff, Oskar: Tizians Kolorit in seiner Entfaltung und Nachwirkung, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14170#0263
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TIZIANS KOLORIT IN SEINER ENTFALTUNG U. NACHWIRKUNG 243

ihre optische Abwandlung, — einerseits also zu ihren Eigenwerten,
andrerseits aber bis etwa 1830 zu ihrer gegenständlichen Bindung. Und
darin liegt denn doch der Keim zu etwas Neuem und Fruchtbarem, —
nämlich zur höchsten Vervollkommnung ihres Darstellungswertes.
Das XIX. Jahrhundert erreicht im Impressionismus einen zuvor noch
nicht erklommenen Gipfel der Naturwahrheit der Farbe. Der Tizian-
forscher erkennt freilich seine Höchstleistungen in der Wiederbelebung
des Kolorismus durch Delacroix, Manet, Cezanne in Frankreich, durch
Menzel, Feuerbach, Marees und Leibi in Deutschland. Aber schon diese
Namenreihen besagen, daß beides Hand in Hand geht. Denn von der
Eigengesetzlichkeit der Farbe kann sich keine Malerei befreien, ohne
Unkunst zu werden, so wenig wie die Tonkunst von dem Grundgesetz
der Tonarten. Das Verhältnis dieser Künstler zu dem von den meisten
bewunderten Tizian konnte daher kein anderes sein als das der „sub-
jektiven Begegnung". Doch hat der Individualismus des XIX. Jahr-
hunderts das nur noch folgerichtiger betrieben als die Großmeister des
XVII. Jahrhunderts.

Tizians Werk umfaßt eben so vielfältige Möglichkeiten, daß für
ihn im höchsten Maße zutrifft: „Wer vieles bringt, wird manchem
etwas bringen". Er hat sie nicht „geschaffen" — das wäre jedenfalls
mißverständlich ausgedrückt —, wohl aber größtenteils zuerst entdeckt.
Sind sie doch insgesamt in der Eigengesetzlichkeit der Farbe begründet.
Das erkennt auch Hetzer und spricht es mehrfach, wenngleich kaum mit
voller Klarheit, aus. Aber daß er in Tizian den Ausgangspunkt er-
blickt, von dem aus die gesamte neuzeitliche koloristische Entwicklung
am ehesten verständlich wird, war auch vom theoretischen Gesichts-
punkt ein durchaus berechtigter Leitgedanke. Alle Möglichkeiten hat in-
dessen selbst Tizian nicht erschöpft, am wenigsten die der äußersten Steige-
rung des Helldunkelkontrasts, die erst Caravaggio durchführt, und nur
angebahnt die des kühlen Kolorits. Das eben sollte hier nachgewiesen
werden. Auch damit ist jedoch Tizians eigner Werdegang noch keines-
wegs restlos aufgeklärt. Für die Erhellung des Gesamtverlaufs bleibt
umsomehr zu leisten. Dazu reicht vollends selbst eine so ausgebreitete
Tatsachenkenntnis, wie sie Hetzer besitzt, allein nicht aus. Dazu ge-
hört auch die tiefere Ergründung der Gestaltungsgesetze.
 
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