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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 33.1913-1914

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Michel, Wilhelm: Lebenswerte der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.7011#0017

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JOSEF WACKERLE.

RELIEF »HERBST«

LEBENSWERTE DER KUNST.

~\ Ton der Kunst wird oft als von einem reinen
V Luxuswerte gesprochen. Vielen, die hart
an die Galeerenbänke des Erwerbslebens ge-
schmiedet sind, gilt sie als eine Sache, die eben-
sogut auch nicht zu sein brauchte; als ein
reizender Überfluß, eine unnütze Dekoration,
vergleichbar etwa den reinen Genußmitteln im
Gegensatze zur Nahrung, zum täglichen Brot.

Eine moderne Geschichtsauffassung, die sich
selbst die materialistische nennt, ist nur ge-
eignet, diese Auffassung der Kunst als eines
reizvollen Spielzeugs zu unterstützen: Hunger
und Liebe seien die alleinigen Triebfedern alles
menschlichen Tuns; alles Ringen um ideale
Werte nur eine illusionistische Verhüllung des
ewigen Kampfes um Macht und Erwerb.

An dem Problem der künstlerischen Psycho-
logie aber erweist die materialistische Ge-
schichtshypothese ihre Unzulänglichkeit. Denn
aus der Legende von der Alleinherrschaft des
Erwerbs- und Machttriebes lassen sich wohl
innerhalb der Kunst manche Erscheinungen
erklären, die Kunst selbst aber niemals.

Betrachtet man den ewigen Kampf, den die
Kunst in jedem Künstler, selbst im „Kitschier",
gegen die materiellen Mächte des Lebens zu
führen hat, so kann nur eines erstaunen: daß
es heute wie in den dunkelsten Anfangszeiten
der Völker immer noch, immer wieder Men-
schen gibt, die eine Tätigkeit treiben, welche
allein von fast allen menschlichen Verrichtungen
sich unter immaterielle Normen und Bestim-
mungsgründe gestellt hat. So sehr, daß man
das Erwerbsstreben, das für alle andern Berufe
ohne weiteres selbstverständlich ist, für die
Kunst in einem eigenen Sprichwort festzustellen

für nötig hielt: „Die Kunst geht nach Brot".
Ja, das tut sie, aber nur mittelbar; ein erwünsch-
ter Begleitumstand ihres auf Erzielung unab-
hängiger, außermaterieller Werte gerichteten
Strebens, das ist für die Kunst der Erwerb. Im
Grunde genommen, ist das Sprichwort falsch:
Nicht die Kunst, der Künstler geht nach Brot.

Das Erwerbsstreben erscheint eine Zeitlang
als Selbstzweck, vorab beim kleinen Bürger.
Wo aber Besitz und Machtmittel sich häufen,
wird automatisch Raum für die Frage: Wozu
das alles? Und siehe da, die Antwort auf dieses
letzte Wozu des ewigen Ringens muß in einigen
Fällen die Religion, in den meisten aber die
Kunst geben. Leben, die hart begannen, sehen
wir oft endigen unter dem Liniensingen edler
Bildwerke. Schätze, die anfangs in bitterem
Ringen, später in immer volleren Strömen in
die Tresors der Begünstigten flössen, sehen
wir oft am Ende in einer Art Rausch sich wie-
der austauschen gegen die Werte der Kunst,
die sinnvollen, die lebenenträtselnden. Als
spürte der tote Besitz seine Nichtigkeit, als
wandle ihn böses Gewissen an, als erschrecke
er durch die Häufung vor sich selbst und suche
sich zu rechtfertigen, indem er sich in dauer-
barere Werte verwandelt, indem er wieder zu
Leben wird. Spät, aber doch in fast allen Fällen
wird so der Kunst selbst im Leben des Er-
werbsfrohesten ihr Recht. Gewiß trifft es zu,
was der vom materiellen Leben angefeindete
Künstler aus seinem Leiden heraus spricht:

Sie nennen unsre Qual mit argen Namen
Und feiern unsre Jubelfeste nicht.
Wir sind wie Pilger, welche fernher kamen,
Fremd wie ein Feind, der ihren Frieden bricht.

1913/14. 1.1.

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