Andres.
98 Vetter
wohl mit Dir gemeint haben, wir hören jetzt von Allem das
erste Wort."
„Da hat die Frau Muhme mit der Gottes Hülfe eigent-
lich recht," meinte Vetter Andres mit einer Seelenruhe, als ob
sich's um ganz gleichgültige Dinge handelte, „ich hättc's wohl
der Frau Muhme etwas früher sagen können."
„Warum hast Du's denn aber nicht gethan?" fuhr sie
stillweinend fort.
„Ja! sieht die Frau Muhme, cs wollte sich eigentlich
immer nicht so recht schicken. Im Winter war's mir immer
zu kalt zur Reise und im Sommer wieder zu warm. Und
dann muß die Frau Muhme auch nur wissen, daß ich, es
werden nächstes Frühjahr fünf Jahre, vier ganzer Wochen das
kalte Fieber gehabt habe. Da bekkertcn mir alle Knochen
im Leibe."
„Na! Geschehenes ist leider nicht mehr zu ändern," fuhr
die Frau Muhme sich wieder sammelnd fort. „Aber was
willst Du denn jetzt nur eigentlich ansangen, Vetter Andres?"
„Wenn ich die Frau Muhme mit Wahrheit berichten soll,"
erwiderte er gleichmüthig und mit sich einig, „vor der Hand
mit der Gottes Hülse gar nichts."
„Und wo wohnst Du denn jetzt," fuhr sie fort, „da Du
Dein Haus verkauft hast?"
„Ich? ich wohne eigentlich gar nicht, als bei der Frau
Muhme?"
„Jetzt! aber wo willst Du später hin?" fragte sie gespannt.
„Ich will mit der Gottes Hülfe gar nicht wieder weg,"
erwiderte er mit dem Ausdrucke der größten Zufriedenheit.
„Es gefällt mir eigentlich bei der Frau Muhme recht gut."
„Ei! bleib in Jesu, unsers Gottes und Heilandes Namen
bei mir," versetzte sie liebreich, „so lange es Dir gefällt, oder
so lange mich Gottes Gnade noch am Leben läßt. Du weißt
wohl, daß ich Dich nicht auf die Straße hinausstoßen werde,
davor soll mich Gott in Gnaden bewahren. Und es soll Dir
auch, so lange ich lebe, nicht an Speise und Trank und an
Kleidung fehlen. Aber Du weißt, ich bin eine alte Frau, ,
mich kann Gott der Herr alle Tage abrufe». Was dann?"
„Aber die Frau Muhme braucht ja mit der Gottes Hülfe
eigentlich noch nicht zu sterben."
„Aber ich kann doch alle Tage sterben . . . ."
„Ja! da hat die Frau Muhme eigentlich wohl recht," er-
widerte er treuherzig; „aber was das anbetrcffen thut, so Hab'
ich eigentlich noch nicht recht daran gedacht. Weiß die Frau
Muhme was? ich denke, wir warten's ab."
„Nun meinetwegen," schloß die Frau Muhme dieses uner- j
quicklichc Gespräch, „und ich will jetzt alle Morgen und alle '
Abend Deinetwegen doppelt inbrünstig zu Gott beten, daß er !
meine Lebenszeit so weit hinaus erstrecken möge, als cs seiner I
Gnade und Barmherzigkeit beliebt."
Vetter Andres wohnte nun in dem Frcmdcnstübchen der
Frau Muhme auf dem Seitenflügel des Hauses so recht behaglich
und ohne Sorge. Morgens, wenn er aufstand, war sein Kaffee
fertig und auch Weißbrod stand dabei zum Eintunken, wenn
gerade kein Kuchen im Hause war; gegen 9 Uhr gab es eine
Butterbemme; Mittags war der Tisch für ihn mitgedcckt, und
er war kein Kostverächter, und so ging es einen Tag wie den
andern. Es währte keine vier Wochen, so hatte er schon vier
Stück Kanarienvögel, zwei Nachtigallen, darunter einen Nacht-
schläger, eine Wachtel und vier Dompfaffen im Zimmer; letz-
tere lernte er an. Auf dem Boden des Hauses richtete er
einen Verschlag ein für Trommel- und andere Lurustauben,
die er sich von anderen Taubenliebhabern aus der ganzen Um-
gegend ertauschte oder erschnurrte. Auch einen jungen Hund,
einen Bastard von des Herrn Pastors Pünscher und des Cantors
Wachtelhündin hatte er ins Haus geschmuggelt. Dieser Letztere,
das heißt nicht der Cantor, sondern der junge Phylar wurde
aber auf Protest der Frau Muhme wieder entfernt.
Die Söhne und Töchter, auch die Herreu Schwiegersöhne
der mildherzigen Frau, die alle nur einige Stunden oder Meilen
von Schönstädt entfernt wohnten und in guten Vcrhältniffen
lebten, erkannten gar wohl die unendliche Last, die sich die
Mutter durch Aufnchmcn des Vetter Andres in ihr Haus auf-
gebürdet hatte, und machten ihr bei einer eigens zu diesem
Zwecke veranstalteten Familienzusammcnkunft in dringlicher
Weise den Vorschlags eine Summe durch Sammlung in der
Familie zusammen zu bringen, um Vetter Andresen in irgend
einer milden Stiftung oder einem Hospitale cinzukaufen. „Thut
das, Kinder," erwiderte die gutherzige Frau. „Gott wird Euch
dafür segnen; aber nicht eher, als nach meinem Tode. Denn
so lange ich lebe, soll er nicht von mir. Ihr sagt, er macht
mir viel Last in meinen alten Tagen, und Ihr mögt damit
Recht haben, ich will's nicht Hehl haben. Aber die habt Ihr
mir auch gemacht, als Ihr klein wart, und ich habe Euch drum
doch nicht verstoßen oder von mir gethan. Wollt Ihr ihm
aber schon bei meinen Lebzeiten bcistehcn, so habt Ihr ja Ge-
legenheit genug dazu; Ihr könnt ihm abgelegte Kleidungsstücke
und hin und wieder ein kleines Taschengeld zuwcnde». Auch
kann er ja, wenn Jhr's erlaubt, einmal auf Tage oder Wochen
98 Vetter
wohl mit Dir gemeint haben, wir hören jetzt von Allem das
erste Wort."
„Da hat die Frau Muhme mit der Gottes Hülfe eigent-
lich recht," meinte Vetter Andres mit einer Seelenruhe, als ob
sich's um ganz gleichgültige Dinge handelte, „ich hättc's wohl
der Frau Muhme etwas früher sagen können."
„Warum hast Du's denn aber nicht gethan?" fuhr sie
stillweinend fort.
„Ja! sieht die Frau Muhme, cs wollte sich eigentlich
immer nicht so recht schicken. Im Winter war's mir immer
zu kalt zur Reise und im Sommer wieder zu warm. Und
dann muß die Frau Muhme auch nur wissen, daß ich, es
werden nächstes Frühjahr fünf Jahre, vier ganzer Wochen das
kalte Fieber gehabt habe. Da bekkertcn mir alle Knochen
im Leibe."
„Na! Geschehenes ist leider nicht mehr zu ändern," fuhr
die Frau Muhme sich wieder sammelnd fort. „Aber was
willst Du denn jetzt nur eigentlich ansangen, Vetter Andres?"
„Wenn ich die Frau Muhme mit Wahrheit berichten soll,"
erwiderte er gleichmüthig und mit sich einig, „vor der Hand
mit der Gottes Hülse gar nichts."
„Und wo wohnst Du denn jetzt," fuhr sie fort, „da Du
Dein Haus verkauft hast?"
„Ich? ich wohne eigentlich gar nicht, als bei der Frau
Muhme?"
„Jetzt! aber wo willst Du später hin?" fragte sie gespannt.
„Ich will mit der Gottes Hülfe gar nicht wieder weg,"
erwiderte er mit dem Ausdrucke der größten Zufriedenheit.
„Es gefällt mir eigentlich bei der Frau Muhme recht gut."
„Ei! bleib in Jesu, unsers Gottes und Heilandes Namen
bei mir," versetzte sie liebreich, „so lange es Dir gefällt, oder
so lange mich Gottes Gnade noch am Leben läßt. Du weißt
wohl, daß ich Dich nicht auf die Straße hinausstoßen werde,
davor soll mich Gott in Gnaden bewahren. Und es soll Dir
auch, so lange ich lebe, nicht an Speise und Trank und an
Kleidung fehlen. Aber Du weißt, ich bin eine alte Frau, ,
mich kann Gott der Herr alle Tage abrufe». Was dann?"
„Aber die Frau Muhme braucht ja mit der Gottes Hülfe
eigentlich noch nicht zu sterben."
„Aber ich kann doch alle Tage sterben . . . ."
„Ja! da hat die Frau Muhme eigentlich wohl recht," er-
widerte er treuherzig; „aber was das anbetrcffen thut, so Hab'
ich eigentlich noch nicht recht daran gedacht. Weiß die Frau
Muhme was? ich denke, wir warten's ab."
„Nun meinetwegen," schloß die Frau Muhme dieses uner- j
quicklichc Gespräch, „und ich will jetzt alle Morgen und alle '
Abend Deinetwegen doppelt inbrünstig zu Gott beten, daß er !
meine Lebenszeit so weit hinaus erstrecken möge, als cs seiner I
Gnade und Barmherzigkeit beliebt."
Vetter Andres wohnte nun in dem Frcmdcnstübchen der
Frau Muhme auf dem Seitenflügel des Hauses so recht behaglich
und ohne Sorge. Morgens, wenn er aufstand, war sein Kaffee
fertig und auch Weißbrod stand dabei zum Eintunken, wenn
gerade kein Kuchen im Hause war; gegen 9 Uhr gab es eine
Butterbemme; Mittags war der Tisch für ihn mitgedcckt, und
er war kein Kostverächter, und so ging es einen Tag wie den
andern. Es währte keine vier Wochen, so hatte er schon vier
Stück Kanarienvögel, zwei Nachtigallen, darunter einen Nacht-
schläger, eine Wachtel und vier Dompfaffen im Zimmer; letz-
tere lernte er an. Auf dem Boden des Hauses richtete er
einen Verschlag ein für Trommel- und andere Lurustauben,
die er sich von anderen Taubenliebhabern aus der ganzen Um-
gegend ertauschte oder erschnurrte. Auch einen jungen Hund,
einen Bastard von des Herrn Pastors Pünscher und des Cantors
Wachtelhündin hatte er ins Haus geschmuggelt. Dieser Letztere,
das heißt nicht der Cantor, sondern der junge Phylar wurde
aber auf Protest der Frau Muhme wieder entfernt.
Die Söhne und Töchter, auch die Herreu Schwiegersöhne
der mildherzigen Frau, die alle nur einige Stunden oder Meilen
von Schönstädt entfernt wohnten und in guten Vcrhältniffen
lebten, erkannten gar wohl die unendliche Last, die sich die
Mutter durch Aufnchmcn des Vetter Andres in ihr Haus auf-
gebürdet hatte, und machten ihr bei einer eigens zu diesem
Zwecke veranstalteten Familienzusammcnkunft in dringlicher
Weise den Vorschlags eine Summe durch Sammlung in der
Familie zusammen zu bringen, um Vetter Andresen in irgend
einer milden Stiftung oder einem Hospitale cinzukaufen. „Thut
das, Kinder," erwiderte die gutherzige Frau. „Gott wird Euch
dafür segnen; aber nicht eher, als nach meinem Tode. Denn
so lange ich lebe, soll er nicht von mir. Ihr sagt, er macht
mir viel Last in meinen alten Tagen, und Ihr mögt damit
Recht haben, ich will's nicht Hehl haben. Aber die habt Ihr
mir auch gemacht, als Ihr klein wart, und ich habe Euch drum
doch nicht verstoßen oder von mir gethan. Wollt Ihr ihm
aber schon bei meinen Lebzeiten bcistehcn, so habt Ihr ja Ge-
legenheit genug dazu; Ihr könnt ihm abgelegte Kleidungsstücke
und hin und wieder ein kleines Taschengeld zuwcnde». Auch
kann er ja, wenn Jhr's erlaubt, einmal auf Tage oder Wochen
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Vetter Andres"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Public Domain Mark 1.0
Creditline
Fliegende Blätter, 28.1858, Nr. 665, S. 98
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg