163
Blaue
aus Anna's reiner Brust empor. Als ob das liebe Mädchen
geahnt hätte, daß ihr Spiel in der That der Hcroldsrnf sei,
der den Sieg des besseren Selbst in dem Professor über die
ihm widerstreitenden feindlichen Mächte mit triumphirender
Stimme ankündigcn müsse, der Heroldsruf der Auferstehung des
Scclcnfrühlings aus langem, eisig starren Winterschlaf.
Die untergehende Junisonne warf ihre letzten, purpurnen
Strahlen spielend in das Zimmer Anna's und auf das Bett
des Profesiors. Anna hörte auf zu spielen und zu singen, und
machte sich an eine Handarbeit, nachdem sie einige Minute»,
gleichsam noch unter dem Zauberbann der Töne, mit gefalteten
Händen und niedergeschlagenen Augen wie in stille Andacht ver-
senkt, dagesessen war. Es wurde dunkel, und der Professor
horchte aufmerksam auf den sausenden Ton, den das Rad der
Nähmaschine Anna's durch seine Drehung verursachte. Seine
Gedanken, die bisher lediglich der Musik gefolgt waren,
richteten sich jetzt auf diejenige, die die schönen Töne hervorge-
zaubert hatte. Er verglich sich, sein Leben, seine Anschauungen
und seine Handlungsweise mit dem Leben und dem Wirken
seiner Nachbarin. Wie hoch sie in allen Stücken über ihm zu
stehen schien! Wie gut wußte sie die Arbeit mit der Kunst, das
Nützliche mit dem Schönen zu vereinigen, während er in ver-
knöcherter Einseitigkeit in abstrakten Süidicn erstarrte! Weß-
wegen konnte sie, die gleich ihm verwaist und vereinsamt und
außerdem ein schutzloses Mädchen war, sich ruhige Zufriedenheit
des Gemüthes, stille Heiterkeit der Seele bewahren, während er
in trüber, dumpfer Verdrossenheit dahin brütete? Dann dachte
er an Alles, was er von Anna's Wohlthätigkeit und Hcrzcns-
gütc gehört hatte, und mußte zu seiner Beschämung sich selbst
cingestehen, daß, wenn er einem Bedürftigen etwas gab, er
dies entweder aus angeborner Freigebigkeit that, oder, weil
das Geld keinen Werth für ihn hatte, oder auch, um den
lästigen Bittsteller so bald wie möglich los zu werden; Mitgefühl
wahres Wohlwollen und ein warmes Herz spielren dabei keine
Rolle. Er rief sich darauf seine Rücksichtslosigkeit gegen Anna
in's Gedächtniß zurück, welche diese nicht nur mit stiller Ergebung
ertragen, sondern dadurch vergolten hatte, daß sie die Erste ge-
wesen war, die ihm an dem vcrhängnißvollen Tage, da er das
Bein gebrochen, hülfreiche Dienste geleistet hatte, und dadurch
noch vergalt, daß sie ihm täglich zu seiner Zerstreuung Musik
machte. Auch die Worte des Arztes, der die Erhaltung seines
Fußes einzig und allein der schnellen Hülfe Anna's zngeschriebcn,
kamen ihm in den Sinn. Schließlich entsann er sich auch der
äußeren Erscheinung Anna's, und dachte an die schöne, schlanke
Gestalt, die auf der Treppe an ihm vorbcigehuscht war, um den
Arzt und andern Beistand für ihn zu holen. Es war ihm, als
sehe er in diesem Augenblicke das sanfte Gesicht mit dem Aus-
druck der Angst um ihn, die großen blauen Augen, gefüllt von
Thräncn des Mitleids mit ihm. —
Es war am letzten Tage des Juni, als Anna nach fünf-
wöchentlicher Unterbrechung wieder die Schritte des Profesiors
über ihrem Zimmer vernahm. Sein Fuß war vollständig
und ausgezeichnet geheilt, und die Kochkunst wie das Spiel
Anna's hatten viel dazu bcigetragen, Delius geistig heiter und
Auge n.
körperlich kräftig zu erhalten. Noch vierzehn Tage später,
und Brennckc erschien bei Anna mit der Nachricht, daß der
Professor heute zum erstenmale wieder ausgehen und sein Mittag-
mahl, wie früher, in der blauen Kanone einnchmcn würde.
Anna erschrack heftig. Heute also mußte es klar werden, daß
sie sechs Wochen lang des Professors Köchin gewesen sei. Wie
leicht konnte er, der, wie er früher so stolz geäußert hatte.
Niemanden, am wenigsten einem Weibe, etwas schuldig sein
mochte, Anna's, wenn auch noch so gut gemeinte, Handlungs-
weise mißbilligend aufnehmen und am Ende gar ernstlich böse
werden. Aber der alle Brennekc beruhigte sie, indem er sagte:
„Der Professor ist jetzt ganz anders, wie früher, und es ist
durchaus nichts zu befürchten, (juantum diversus ab illol"
schloß Brennekc und empfahl sich, kehrte aber nach einigen
Sekunden zurück, um das vergessene „wie wir Gelehrten mit
dem Dichter sagen" der Consequenz wegen nachzutragen.
Bedeutend früher, als dies die Entfernung der blauen
Kanone von seiner Wohnung erheischte, verließ der Profesior sein
Zimmer. Er hatte einen Entschluß gefaßt, dessen er sich selbst
früher nie für fähig gehalten hätte, so leicht auch auf den ersten
Blick die Ausführung desselben erschien. Er wollte, bevor er
in das Gasthaus ging, Anna persönlich seinen Dank für die
Aufmerksamkeit, die sie ihm am Klavier erwiesen, aus-
sprechen. Auch hatte er ein unbestimmtes Gefühl, über welches
er sich selbst nicht Rechenschaft geben konnte, das ihm sagte, cs
sei so manches auf seiner 'Seele, das ihn vielleicht weniger
beunruhigen würde, wenn er es, aus seiner Abgeschlossenheit
heraustretend, einem reinen, wohlwollenden, fühlenden Herzen
mittheilen könne. Er war die Treppe hinabgesticgen und stand
21*
Blaue
aus Anna's reiner Brust empor. Als ob das liebe Mädchen
geahnt hätte, daß ihr Spiel in der That der Hcroldsrnf sei,
der den Sieg des besseren Selbst in dem Professor über die
ihm widerstreitenden feindlichen Mächte mit triumphirender
Stimme ankündigcn müsse, der Heroldsruf der Auferstehung des
Scclcnfrühlings aus langem, eisig starren Winterschlaf.
Die untergehende Junisonne warf ihre letzten, purpurnen
Strahlen spielend in das Zimmer Anna's und auf das Bett
des Profesiors. Anna hörte auf zu spielen und zu singen, und
machte sich an eine Handarbeit, nachdem sie einige Minute»,
gleichsam noch unter dem Zauberbann der Töne, mit gefalteten
Händen und niedergeschlagenen Augen wie in stille Andacht ver-
senkt, dagesessen war. Es wurde dunkel, und der Professor
horchte aufmerksam auf den sausenden Ton, den das Rad der
Nähmaschine Anna's durch seine Drehung verursachte. Seine
Gedanken, die bisher lediglich der Musik gefolgt waren,
richteten sich jetzt auf diejenige, die die schönen Töne hervorge-
zaubert hatte. Er verglich sich, sein Leben, seine Anschauungen
und seine Handlungsweise mit dem Leben und dem Wirken
seiner Nachbarin. Wie hoch sie in allen Stücken über ihm zu
stehen schien! Wie gut wußte sie die Arbeit mit der Kunst, das
Nützliche mit dem Schönen zu vereinigen, während er in ver-
knöcherter Einseitigkeit in abstrakten Süidicn erstarrte! Weß-
wegen konnte sie, die gleich ihm verwaist und vereinsamt und
außerdem ein schutzloses Mädchen war, sich ruhige Zufriedenheit
des Gemüthes, stille Heiterkeit der Seele bewahren, während er
in trüber, dumpfer Verdrossenheit dahin brütete? Dann dachte
er an Alles, was er von Anna's Wohlthätigkeit und Hcrzcns-
gütc gehört hatte, und mußte zu seiner Beschämung sich selbst
cingestehen, daß, wenn er einem Bedürftigen etwas gab, er
dies entweder aus angeborner Freigebigkeit that, oder, weil
das Geld keinen Werth für ihn hatte, oder auch, um den
lästigen Bittsteller so bald wie möglich los zu werden; Mitgefühl
wahres Wohlwollen und ein warmes Herz spielren dabei keine
Rolle. Er rief sich darauf seine Rücksichtslosigkeit gegen Anna
in's Gedächtniß zurück, welche diese nicht nur mit stiller Ergebung
ertragen, sondern dadurch vergolten hatte, daß sie die Erste ge-
wesen war, die ihm an dem vcrhängnißvollen Tage, da er das
Bein gebrochen, hülfreiche Dienste geleistet hatte, und dadurch
noch vergalt, daß sie ihm täglich zu seiner Zerstreuung Musik
machte. Auch die Worte des Arztes, der die Erhaltung seines
Fußes einzig und allein der schnellen Hülfe Anna's zngeschriebcn,
kamen ihm in den Sinn. Schließlich entsann er sich auch der
äußeren Erscheinung Anna's, und dachte an die schöne, schlanke
Gestalt, die auf der Treppe an ihm vorbcigehuscht war, um den
Arzt und andern Beistand für ihn zu holen. Es war ihm, als
sehe er in diesem Augenblicke das sanfte Gesicht mit dem Aus-
druck der Angst um ihn, die großen blauen Augen, gefüllt von
Thräncn des Mitleids mit ihm. —
Es war am letzten Tage des Juni, als Anna nach fünf-
wöchentlicher Unterbrechung wieder die Schritte des Profesiors
über ihrem Zimmer vernahm. Sein Fuß war vollständig
und ausgezeichnet geheilt, und die Kochkunst wie das Spiel
Anna's hatten viel dazu bcigetragen, Delius geistig heiter und
Auge n.
körperlich kräftig zu erhalten. Noch vierzehn Tage später,
und Brennckc erschien bei Anna mit der Nachricht, daß der
Professor heute zum erstenmale wieder ausgehen und sein Mittag-
mahl, wie früher, in der blauen Kanone einnchmcn würde.
Anna erschrack heftig. Heute also mußte es klar werden, daß
sie sechs Wochen lang des Professors Köchin gewesen sei. Wie
leicht konnte er, der, wie er früher so stolz geäußert hatte.
Niemanden, am wenigsten einem Weibe, etwas schuldig sein
mochte, Anna's, wenn auch noch so gut gemeinte, Handlungs-
weise mißbilligend aufnehmen und am Ende gar ernstlich böse
werden. Aber der alle Brennekc beruhigte sie, indem er sagte:
„Der Professor ist jetzt ganz anders, wie früher, und es ist
durchaus nichts zu befürchten, (juantum diversus ab illol"
schloß Brennekc und empfahl sich, kehrte aber nach einigen
Sekunden zurück, um das vergessene „wie wir Gelehrten mit
dem Dichter sagen" der Consequenz wegen nachzutragen.
Bedeutend früher, als dies die Entfernung der blauen
Kanone von seiner Wohnung erheischte, verließ der Profesior sein
Zimmer. Er hatte einen Entschluß gefaßt, dessen er sich selbst
früher nie für fähig gehalten hätte, so leicht auch auf den ersten
Blick die Ausführung desselben erschien. Er wollte, bevor er
in das Gasthaus ging, Anna persönlich seinen Dank für die
Aufmerksamkeit, die sie ihm am Klavier erwiesen, aus-
sprechen. Auch hatte er ein unbestimmtes Gefühl, über welches
er sich selbst nicht Rechenschaft geben konnte, das ihm sagte, cs
sei so manches auf seiner 'Seele, das ihn vielleicht weniger
beunruhigen würde, wenn er es, aus seiner Abgeschlossenheit
heraustretend, einem reinen, wohlwollenden, fühlenden Herzen
mittheilen könne. Er war die Treppe hinabgesticgen und stand
21*
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Blaue Augen"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Objektbeschreibung
Bildbeschriftung: "ANNA STEIN"
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 63.1875, Nr. 1583, S. 163
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg