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"Unter der GrasNarbe" <Veranstaltung, 2014, Hannover>; Schomann, Rainer [Editor]; Schormann, Michael Heinrich [Editor]; Wolschke-Bulmahn, Joachim [Editor]; Winghart, Stefan [Editor]; Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege [Editor]; VGH-Stiftung [Editor]; Zentrum für Gartenkunst und Landschaftsarchitektur [Editor]; Michael Imhof Verlag GmbH & Co. KG [Editor]; Institut für Denkmalpflege [Editor]
Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Niedersachsen: Unter der GrasNarbe: Freiraumgestaltungen in Niedersachsen während der NS-Diktatur als denkmalpflegerisches Thema : Dokumentation der Tagung vom 26.-29. März 2014 in Hannover — Petersberg: Michael Imhof Verlag GmbH & Co. KG, Heft 45.2015

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Tsimerman, Mosheh: "Am Bahnsteig der Erinnerung": jüdische Räume - erinnerungsreiche Leere
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https://doi.org/10.11588/diglit.51271#0015
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„Am Bahnsteig der Erinnerung". Jüdische Räume - Erinnerungsreiche Leere

ja Hinweise auf den Anfang einer Reise in den Tod. Es
ist aber gerade die Vernetzung und die Bewegung,
die die Erinnerung an das verlorene Lebendige noch
stärker wachrütteln kann.
Die Idee, die vergangene Bewegung in eine Form
statischer Orte der Erinnerung zu gießen, ist nicht
nur fragwürdig, sondern auch praktisch schwierig.
Nicht immer standen für Transport und Bewegung der
Menschen im Nationalsozialismus die Schienen zur
Verfügung. Man denke nur an die „Todesmärsche"
aus den Konzentrationslagern gegen Ende des Krie-
ges. Bereits 1976, also fünf Jahre bevor das „Museum
des Todesmarsches" unweit von Wittstock den
Todesmarsch aus dem Lager Sachsenhausen do-
kumentierte; acht Jahre, bevor Yehuda Bauers und
Shmuel Krakowskis Aufsätze die Todesmärsche wis-
senschaftlich thematisierten,3 und 35 Jahre, bevor
Daniel Blattmanns wissenschaftliches Standardwerk
zum Thema erschien,4 wurden 120 Tafeln in Ge-
meinden aufgestellt, durch die der qualvolle Marsch
verlaufen war, quasi als Bahnsteige auf dem Weg der
Erinnerung. Da die wichtigsten Exponate eigentlich
die von Häftlingen in die Rinden der Bäume geritzten,
aber dort schwer lesbaren Inschriften waren, wurden
diese in der Natur verstreuten Zeugnisse fotografiert
und in dem Museum ausgestellt. Der zentrale Ort
der Erinnerung ist auf diese Weise zum Sammelort
für die unterwegs aufgefundenen Spuren geworden.
Der Begriff des Ortes - in jeder Hinsicht unbequem -
erfuhr somit eine Ausdehnung.

Das ist ein Aspekt der Problematik des „unbequemen
Ortes", der mit Bewegung zusammenhängt, von
Bahnsteig zu Bahnsteig. Man kann jedoch den Begriff
„unbequemer Ort" an sich problematisieren, wenn
man leere Orte betrachtet, die keine klaren Konturen
haben, Orte der Verbrechen der nationalsozialistischen
Herrschaft, die aber die für das Regime typische Archi-
tektur nicht mitsprechen lassen.
Ich bin Sohn Hamburger Juden, die ihre Heimat vier
bzw. fünf Jahre nach der Machtübernahme der Natio-
nalsozialisten verlassen mussten und nach Palästina
auswanderten. Meine Mutter kehrte erst 47 Jahre nach
der Auswanderung zum ersten Male wieder in ihre
Heimat zurück - zu einem Besuch, auch bei mir, der
ich mich damals während eines Forschungssemesters
in Deutschland aufhielt. Wir kamen am Hamburger
Dammtor-Bahnhof an. Meine Mutter, Tochter dieser
Stadt, stand nun auf dem Bahnsteig ihrer Jugender-
innerung. Für mich jedoch war dieser Bahnsteig ein
Bahnsteig der Vergangenheit. Später stieß ich auf
das Tagebuch der Luise Solmitz, in dem die Autorin
schildert, wie ihre Tochter beim Vorbeifahren mit der
S-Bahn in Richtung Dammtor-Bahnhof im Oktober
1941 aus einer Entfernung von weniger als hundert
Metern die Sammelstelle für die zu deportierenden
Juden am Tag der Deportation beobachten konnte.5
Die Deportation als Objekt der S-Bahnreisenden!
Wie gestaltet man diesen unbequemen Komplex -
Bahnhof, Bahnsteig, Moorweidenstrasse, Logenhaus
- neben dem Hauptgebäude der Universität, um mit
der Erinnerung richtig umzugehen?

2 Blick auf den Joseph-Carlebach-Platz in Hamburg mit einer Intarsie im Pflaster, mit der auf die 1938 zerstörte Synagoge
aufmerksam gemacht werden soll, 2015. Foto: Heino Grunert.
 
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