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Vom Dammtor gingen meine Mutter und ich in ein
Hotel im Rothenbaum-Viertel, etwa zweihundert
Meter von der Straße entfernt, in der meine Mut-
ter aufgewachsen war, unweit der großen Born-
platz-Synagoge, in der ihre, meine Familie den
Gottesdienst zu besuchen pflegte. Die Synagoge
wurde nach der Pogromnacht von 1938 abgerissen.
Ein unbequemer Ort? Vermutlich nicht im Sinne
der Überschrift dieser Tagung; denn an der Stelle
der zerstörten Synagoge stand nun ein im Krieg
errichteter „neutraler" Luftschutzbunker, der von
der Universität genutzt wurde, und der Platz hieß
politisch korrekt Allende-Platz. Die Erinnerungen
an die Synagoge und das jüdische Leben an diesem
Ort waren - bis auf eine schwer lesbare Plakette -
ausgelöscht worden, nachdem die Juden, die etwa
ein Drittel der Bevölkerung des Rothenbaum-Viertels
ausgemacht hatten, zwischen 1933 und 1943 „ver-
schwunden" waren. Die Gestaltung des leeren Or-
tes, der eigentlich das Schicksal der Hamburger,
der europäischen Juden symbolisieren sollte, zeigt,
dass der Begriff „unbequem" relativ ist. Die Leere
dieses Ortes, vom Bunker abgesehen, war nur der
ehemaligen Hamburgerin offenkundig, vermutlich
nicht den Hamburger Alltags-Passanten, darunter
wegen der Nähe zur Universität viele Studenten. Es
gibt im Talmud einen Spruch „Wer lügen will, richtet
sein Augenmerk auf die Ferne".6 Chile liegt in sicherer
Entfernung, wenn man aus dem doch irgendwie
unbequemen Ort einen bequemen Platz machen
will und ein Alibi braucht, um sich nicht erinnern
zu müssen an das, was Juden in der Stadt angetan
wurde.
Nur fünfzig Meter entfernt vom Allende-Platz steht das
Gebäude der ehemaligen Talmud-Thora-Schule, die
Schule, in der meine Eltern sich kennengelernt hatten.
Das Gebäude existierte beim Besuch meiner Mutter in
Hamburg 1984 noch in seiner ursprünglichen Form,
war aber für Besucher, die sich für die Geschich-
te der Hamburger Juden interessierten, nur ein
„Geheimtip"; denn der Schriftzug „Talmud-Thora-
Schule" auf dem Tympanon über dem Eingang war
nur schwer lesbar - die britische Besatzungsmacht
hatte die alten Buchstaben mit einer anderen Schrift
übermalt. Das Gebäude gehörte in den 1980er
Jahren der Universitätsbibliothek. Die Schule bot
sich als eine andere Art von Leerraum dar, der die
Erinnerung an die vernichtete jüdische Erziehung und
das ausgemerzte Geistesleben herausforderte. Dieses
Gebäude, das weder von den Nationalsozialisten
gebaut noch zerstört worden war, gehört zu einer
weiteren Gattung der „unbequemen Orte". Gleiches
galt für das Gebäude der Reform-Synagoge an der
Oberstraße. Eingeweiht 1932, wurde es vom „Dritten
Reich" requiriert und schließlich von den Siegern
nach dem Krieg und bis heute als Rundfunkhaus
genutzt. Da stellt sich die Frage, ob eine unauffällige
Plakette allein, die an die Nutzung des Gebäudes
vor der Katastrophe erinnert, den unbequemen Ort
angemessen zum Erinnerungsort umfunktionieren
kann. Der Beitrag der Hamburger Reformbewegung
zur Modernisierung der jüdischen Religion ist von
außerordentlicher Bedeutung und mehr wäre hin-
sichtlich dieses Gebäudes auch besser gewesen.
Das alles war 1984, genau vor 30 Jahren, also auch
schon wieder eine Generation her. Seitdem hat sich
die Erinnerungspolitik in Deutschland gewandelt,
wohl auch im Hinblick auf das Zentrum des jüdischen
Lebens in Hamburg in den fünf Jahrzehnten vor der
Katastrophe. Vor dem „Tempel" steht bereits ein
Denkmal. Die „Talmud-Tora-Schule" ist inzwischen
ein Zentrum der jüdischen Gemeinde geworden,
die Inschrift „Talmud-Thora-Schule" ist für alle
Passanten heutzutage wieder deutlich lesbar -
neben der pflichtgemäßen Präsenz der Polizei. Der
Platz vor dem Logenhaus, hinter der Universität
gegenüber der S-Bahnstrecke, an dem Juden vor
ihrer Deportation registriert und erniedrigt wurden,
erhielt einen Gedenkstein, der an die Vergangenheit
dieses Raumes erinnert, ein Raum, der nicht durch
Architektur, sondern durch die hier stattgefundenen
Ereignisse - nämlich die Deportationen - einen vom
Nationalsozialismus geprägten Charakter erhielt. Der
Allende-Platz musste einen Teil seines Areals hergeben.
Hier wurde 1988 - 50 Jahre nach der Pogromnacht -
der Karlebach-Platz eingerichtet, im Gedenken an den
1942 in den Wäldern bei Riga ermordeten hamburger
Rabbiner. Auf dem Platz wurde zudem die Linie der
Grundmauern der Synagoge in das Pflaster eingraviert.
Dort, wo das Gebäude früher stand und heute nicht
mehr steht, wurden Konturen wieder sichtbar. Die
Abwesenheit der dort früher vorhandenen Synagoge
wird damit recht deutlich. Oder wäre ein Hologramm
eine bessere Erinnerungsmöglichkeit? Raum und Zeit
spielen hier gemeinsam ihre Rollen beim Versuch, diese
unbequemen Orte zu wirksamen Erinnerungsorten
werden zu lassen.
Ich werde im folgenden weitere Beispiele aus
Deutschland und sogar aus Israel anführen, die ge-
botene und nicht-gebotene Lösungen des Problems
der Raumgestaltung entlang der Bahnsteige der
Erinnerung an die „Endlösung der Judenfrage"
illustrieren. Mein Ziel ist es, die Sachlage zu proble-
matisieren, nicht aber dilettantische Lösungen vor-
zuschlagen. (Das gilt auch für die Beispiele, die ich
bisher erwähnt habe). Als Historiker, der sich mit dem
Schicksal der Juden im Nationalsozialismus und mit
der Erinnerungspolitik befasst, bin ich kein Experte für
Raum- und Landschaftsgestaltung oder Denkmäler. Im
Blickpunkt meines Anliegens stehen vor allem Räume,
die weniger durch ihre Architektur die Absichten und
Vom Dammtor gingen meine Mutter und ich in ein
Hotel im Rothenbaum-Viertel, etwa zweihundert
Meter von der Straße entfernt, in der meine Mut-
ter aufgewachsen war, unweit der großen Born-
platz-Synagoge, in der ihre, meine Familie den
Gottesdienst zu besuchen pflegte. Die Synagoge
wurde nach der Pogromnacht von 1938 abgerissen.
Ein unbequemer Ort? Vermutlich nicht im Sinne
der Überschrift dieser Tagung; denn an der Stelle
der zerstörten Synagoge stand nun ein im Krieg
errichteter „neutraler" Luftschutzbunker, der von
der Universität genutzt wurde, und der Platz hieß
politisch korrekt Allende-Platz. Die Erinnerungen
an die Synagoge und das jüdische Leben an diesem
Ort waren - bis auf eine schwer lesbare Plakette -
ausgelöscht worden, nachdem die Juden, die etwa
ein Drittel der Bevölkerung des Rothenbaum-Viertels
ausgemacht hatten, zwischen 1933 und 1943 „ver-
schwunden" waren. Die Gestaltung des leeren Or-
tes, der eigentlich das Schicksal der Hamburger,
der europäischen Juden symbolisieren sollte, zeigt,
dass der Begriff „unbequem" relativ ist. Die Leere
dieses Ortes, vom Bunker abgesehen, war nur der
ehemaligen Hamburgerin offenkundig, vermutlich
nicht den Hamburger Alltags-Passanten, darunter
wegen der Nähe zur Universität viele Studenten. Es
gibt im Talmud einen Spruch „Wer lügen will, richtet
sein Augenmerk auf die Ferne".6 Chile liegt in sicherer
Entfernung, wenn man aus dem doch irgendwie
unbequemen Ort einen bequemen Platz machen
will und ein Alibi braucht, um sich nicht erinnern
zu müssen an das, was Juden in der Stadt angetan
wurde.
Nur fünfzig Meter entfernt vom Allende-Platz steht das
Gebäude der ehemaligen Talmud-Thora-Schule, die
Schule, in der meine Eltern sich kennengelernt hatten.
Das Gebäude existierte beim Besuch meiner Mutter in
Hamburg 1984 noch in seiner ursprünglichen Form,
war aber für Besucher, die sich für die Geschich-
te der Hamburger Juden interessierten, nur ein
„Geheimtip"; denn der Schriftzug „Talmud-Thora-
Schule" auf dem Tympanon über dem Eingang war
nur schwer lesbar - die britische Besatzungsmacht
hatte die alten Buchstaben mit einer anderen Schrift
übermalt. Das Gebäude gehörte in den 1980er
Jahren der Universitätsbibliothek. Die Schule bot
sich als eine andere Art von Leerraum dar, der die
Erinnerung an die vernichtete jüdische Erziehung und
das ausgemerzte Geistesleben herausforderte. Dieses
Gebäude, das weder von den Nationalsozialisten
gebaut noch zerstört worden war, gehört zu einer
weiteren Gattung der „unbequemen Orte". Gleiches
galt für das Gebäude der Reform-Synagoge an der
Oberstraße. Eingeweiht 1932, wurde es vom „Dritten
Reich" requiriert und schließlich von den Siegern
nach dem Krieg und bis heute als Rundfunkhaus
genutzt. Da stellt sich die Frage, ob eine unauffällige
Plakette allein, die an die Nutzung des Gebäudes
vor der Katastrophe erinnert, den unbequemen Ort
angemessen zum Erinnerungsort umfunktionieren
kann. Der Beitrag der Hamburger Reformbewegung
zur Modernisierung der jüdischen Religion ist von
außerordentlicher Bedeutung und mehr wäre hin-
sichtlich dieses Gebäudes auch besser gewesen.
Das alles war 1984, genau vor 30 Jahren, also auch
schon wieder eine Generation her. Seitdem hat sich
die Erinnerungspolitik in Deutschland gewandelt,
wohl auch im Hinblick auf das Zentrum des jüdischen
Lebens in Hamburg in den fünf Jahrzehnten vor der
Katastrophe. Vor dem „Tempel" steht bereits ein
Denkmal. Die „Talmud-Tora-Schule" ist inzwischen
ein Zentrum der jüdischen Gemeinde geworden,
die Inschrift „Talmud-Thora-Schule" ist für alle
Passanten heutzutage wieder deutlich lesbar -
neben der pflichtgemäßen Präsenz der Polizei. Der
Platz vor dem Logenhaus, hinter der Universität
gegenüber der S-Bahnstrecke, an dem Juden vor
ihrer Deportation registriert und erniedrigt wurden,
erhielt einen Gedenkstein, der an die Vergangenheit
dieses Raumes erinnert, ein Raum, der nicht durch
Architektur, sondern durch die hier stattgefundenen
Ereignisse - nämlich die Deportationen - einen vom
Nationalsozialismus geprägten Charakter erhielt. Der
Allende-Platz musste einen Teil seines Areals hergeben.
Hier wurde 1988 - 50 Jahre nach der Pogromnacht -
der Karlebach-Platz eingerichtet, im Gedenken an den
1942 in den Wäldern bei Riga ermordeten hamburger
Rabbiner. Auf dem Platz wurde zudem die Linie der
Grundmauern der Synagoge in das Pflaster eingraviert.
Dort, wo das Gebäude früher stand und heute nicht
mehr steht, wurden Konturen wieder sichtbar. Die
Abwesenheit der dort früher vorhandenen Synagoge
wird damit recht deutlich. Oder wäre ein Hologramm
eine bessere Erinnerungsmöglichkeit? Raum und Zeit
spielen hier gemeinsam ihre Rollen beim Versuch, diese
unbequemen Orte zu wirksamen Erinnerungsorten
werden zu lassen.
Ich werde im folgenden weitere Beispiele aus
Deutschland und sogar aus Israel anführen, die ge-
botene und nicht-gebotene Lösungen des Problems
der Raumgestaltung entlang der Bahnsteige der
Erinnerung an die „Endlösung der Judenfrage"
illustrieren. Mein Ziel ist es, die Sachlage zu proble-
matisieren, nicht aber dilettantische Lösungen vor-
zuschlagen. (Das gilt auch für die Beispiele, die ich
bisher erwähnt habe). Als Historiker, der sich mit dem
Schicksal der Juden im Nationalsozialismus und mit
der Erinnerungspolitik befasst, bin ich kein Experte für
Raum- und Landschaftsgestaltung oder Denkmäler. Im
Blickpunkt meines Anliegens stehen vor allem Räume,
die weniger durch ihre Architektur die Absichten und