Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

"Unter der GrasNarbe" <Veranstaltung, 2014, Hannover>; Schomann, Rainer [Editor]; Schormann, Michael Heinrich [Editor]; Wolschke-Bulmahn, Joachim [Editor]; Winghart, Stefan [Editor]; Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege [Editor]; VGH-Stiftung [Editor]; Zentrum für Gartenkunst und Landschaftsarchitektur [Editor]; Michael Imhof Verlag GmbH & Co. KG [Editor]; Institut für Denkmalpflege [Editor]
Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Niedersachsen: Unter der GrasNarbe: Freiraumgestaltungen in Niedersachsen während der NS-Diktatur als denkmalpflegerisches Thema : Dokumentation der Tagung vom 26.-29. März 2014 in Hannover — Petersberg: Michael Imhof Verlag GmbH & Co. KG, Heft 45.2015

DOI article:
Tsimerman, Mosheh: "Am Bahnsteig der Erinnerung": jüdische Räume - erinnerungsreiche Leere
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.51271#0017
License: Creative Commons - Attribution - ShareAlike

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
13

Verbrechen des „Dritten Reichs" aktiv reflektieren,
also keineswegs die Paradebeispiele der „Brutalität
in Stein",7 der Monumentalarchitektur, wie Prora im
Norden oder der Führerbau im Süden der Republik.
Mich beschäftigt die Frage, wie man eher neutrale,
oft unscheinbar unbequeme Orte, quasi beim Vor-
beifahren, wahrnehmbar und als Erinnerungsorte in
die Aufmerksamkeit rücken kann. Als Außenseiter
erlaube ich mir, auch hierbei eine persönliche Note
anklingen zu lassen, abseits der rein historischen
Betrachtung des Themas.
Die entscheidende Bemerkung, die meine Mutter
beim bereits erwähnten Besuch ihrer Heimatstadt
machte, lautete: „In diesem Stadtteil hat sich wenig
geändert, nur die Seele ist weg". Äußerlich war,
abgesehen von marginalen Veränderungen im Ge-
folge der Modernisierung, nahezu das gesamte
architektonische Ensemble geblieben wie es einst
gewesen war; denn die alliierten Flieger hatten
diese Teile der Stadt gemieden, hatten nicht den
Sitz des Gauleiters, sondern die Arbeiterviertel
bombardiert. Was meine Mutter vermisste, waren die
ihr so vertrauten „Fingerabdrücke" einer jüdischen
Anwesenheit, die alte jüdische Gemeinde und die ihr
vertraute jüdische Gemeinschaft. Es war ein Hinweis
auf ein Defizit, das nicht unbedingt mit Bauten,
Architektur, auch nicht mit konkreten Personen
zusammenhing, ein Defizit von Präsenz, das im
Normalfall durch die heranwachsende Generation
kompensiert wird. Doch hier hat es keine jüdische

Nachfolgegeneration mehr gegeben. Das Defizit
ist zu einem Absoluten geworden. Diese abstrakten
Zeugnisse der Vernichtung wahrzunehmen und in
Erinnerungsarbeit umzusetzen, ist das große Problem.
Ist die abstrakte Abwesenheit in der Erinnerung durch
Worte oder andere Mittel zu kompensieren?
Die Bemerkung meiner Mutter begleitete mich
später bei vielen anderen Begegnungen mit Orten,
die auf Anhieb keinen „unbequemen" Schein aus-
strahlen. Als Zionist, als Bürger des Staates Israels
ist man geneigt, den rückwärts gewandten Blick
auf die zionistische Aktivität im Nationalsozialismus
zu lenken, also am Bahnsteig der Erinnerung bei
der Auswanderung nach Palästina zu verweilen.
Diese Station hat auch einen symbolischen Namen,
der in der Vergangenheit allseits bekannt war:
Meinekestraße. In der Auseinandersetzung zwischen
Zionisten und Antizionisten seit Beginn des 20.
Jahrhunderts galt die Bezeichnung Meinekestraße
als Codewort. Dabei handelte es sich konkret um
die Meinekestrasse Nummer 10 in Berlin, um das
Gebäude des Palästinaamtes, das für Zionisten bis
1938 mit der „Jüdischen Rundschau" als Sprach-
rohr und bis 1941 mit der Hoffnung auf eine Aus-
wanderung aus Deutschland assoziiert wurde. Das
Gebäude steht noch heute in der Seitenstraße des
oberen Ku'damms. Die Nationalsozialisten hatten das
Haus zum Schluss übernommen und als Lagerräume
genutzt, aber keine für das System spezifischen
architektonischen Änderungen vorgenommen. Damit

3 Der Bebelplatz in Berlin. Hier fand 1933 die von den Nationalsozialisten inszenierte „Bücherverbrennung" statt, 2015.
Foto: Max Jung.
 
Annotationen