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Allgemeine Kunstchronik: ill. Zeitschr. für Kunst, Kunstgewerbe, Musik, Theater u. Litteratur — 15.1891

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Allgemeine Kunst-Chronik. XV. Band Nr. 26
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https://doi.org/10.11588/diglit.73795#0772
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Allgemeine Kunst-Chronik,

dass es weit Schlechteres gibt als „Ein kritischer Tag"?
Das wäre ihr gelungen. Der Verurtheilung mit Milderungs-
griinden folgte die ohne Milderungsgründe. Ich muss
wol ein sehr guter Mensch sein, dass ich bei dem Mit-
leid mit mir selbst während der Vorstellung noch so viel
Mitleid für den braven Girardi übrig hatte, der es
wahrlich nicht verdient, in solchen Rollen solcher Stücke
auf die Bretter gestellt zu werden. Ebensowenig verdient
er eine Frau, wie sie ihm während der drei Akte an die
Seite gestellt wurde. Ob das Stück ursprünglich so arm-
selig ist, ob es bei der Verdeutschung, beziehungsweise
Verwienerung so wurde, weiß ich nicht. Wie es ist, hätte
die beste Darstellung es nicht retten können — um so
schlimmer, dass diese keinerlei Anlass zum Loben gab.
Den einzigen Trost des unglücklichen Abends bot
die alte „Zaubergeige" von Treumann und Offenbach
mit den von Herrn Josephi vortrefflich gesungenen
Weisen. Und noch etwas Erfreuliches ist von diesem
Abend zu melden: das Gedränge bei der „Garderobe"
nach dem Schlüsse der Vorstellung war bei weitem nicht
so schlimm wie sonst, da Viele lange vor Schluss weg-
gegangen waren.
*
Das Carltheater hatte mit der Operette „Die
Uhlanen", in drei Akten von Hugo Wittmann, Musile
von Karl Weinberger, am 5. d. M. zum erstenmale
aufgeführt, Glück. Die Operette wird seit vierzehn Tagen
gespielt und ist bereits so bekannt, dass man niemandem
darüber mehr Neues sagen kann. Um der Pflicht des
Berichterstatters zu genügen, sei der glänzende Erfolg
konstatiit und nur das hinzugefügt, dass derselbe vollauf
gerechtfertigt erscheint. Vor allem berührte es wol-
thuend, einen so harmonischen Eindruck von Text und
Musile zu empfangen, als wären dieselben gleichzeitig
entstanden. Hübscher Text und hübsche Melodien! — was
könnte man mehr von einer Operette verlangen, zumal
wir seit lange in dieser Beziehung nicht verwöhnt, ja
recht bescheiden und genügsam geworden sind? Auch die
Darstellenden verdienten den reichlich gespendeten Bei-
fall, vor a'lem die Damen Seebold und Andree,
sowie die Herren Brackl, Blasel, Knaack und der
treffliche Coupletsänger Wittels.
Samstag den 13. Dezember, Nachmittags I Ubr,
gab es eine „Matinee" im Carltheater zum Besten der
„Sozietät der Wiener k. k. Polizeibeamten für ihre
Witwen und Waisen". Das geschickt zusammengesetzte
Programm bot mancherlei Leckerbissen. Zur Eröffnung
dirigirte der beliebte Franz v. Suppe seine Ouvertüre
zu Wohlmuth's Drama „Mozart". Es folgte die Erst-
aufführung des Einakters „Eine Bekehrung" von
Charles de Courcy, verdeutscht von Emil Neumann.
Eine angenehme Plauderei, von Frau Schratt und Herrn

Sonnenthal entzückend gespielt und gesprochen; auch
Fräulein Walbeck war allerliebst als geriebene Kammer-
zofe. Der Wiener Männergesangverein trug unter
Kremser's bewährter Leitung Lieder von Esser, Schu-
mann und Herbek vor und erzielte damit eine mächtige
Wirkung, wie immer und überall, wann und wo er sich
hören lässt. Den Schluss bildete der etwas veraltete
Schwank „Ein empfindlicher Mensch" von Grand-
jean nach Marc-Michel und Labiche, welcher durch das
Zusammenspiel des Komiker - Kleeblattes Girardi,
Knaack und Tewele neuen Reiz gewann und viel
Heiterkeit erregte. Fräulein Ernst that für ihre undankbare
Rolle, was möglich war, während der Darsteller des
Fede.weiß sich dadurch auszeichnete, dass er nicht zu
den Anderen passte. Lebhafter Beifall begleitete sämmt-
liche Vorführungen des Abends. m

Theaterbriefe.
Berlin, Dezember.
Wenn mir nun wieder jemand das alte Lied singen
will, dass unsere Literatur im Argen liege, dass sie an
der Theilnahmslosigkeit der Allgemeinheit zu Grunde gehe,
dann will ich dem Unglücksraben ordentlich heim-
leuchten. Es wurde von mir in der letzten Nummer der
„Allgemeinen Kunst-Chronik" über die behördlichen
Maßnahmen, die neuerer Zeit in Sichen Literatur ver-
fügt werden, berichtet, und heute kann ich mittbeilen,
dass wir eine wirkliche und wahihaftige Literatur be-
sitzen. Ich bin nicht durch die zeitgenössischen Her-
vorbringungen zu diesem Schluss gekommen, sondern
durch die „hiezu berufenen Behörden" auf die Thatsache auf-
merksam gemacht worden. Wir haben nämlich eine Censur,
eine echte Censur, wie zu Heine's und „Jung Deutsch-
lands" Zeiten, und wenn man einmal wirklich diese Censur
bemerkt, wenn man von ihr zu reden genöthigt ist, dann
ist das immer ein untrüglicher Beweis für das Vorhanden-
sein einer „Literatur". Ein eben bekannt gewordenes
Verbot bringt diese Erkenntnis in noch schärfere Be-
leuchtung. Dasselbe betriffc diesmal Marco Praga's
Schauspiel „Die ideale Frau", welches hier am Leasing-
Theater zur Aufführung gelangen sollte. Marco Praga
ist der Autor der „Ehrbaren Mädchen", welche ja aucli
am Wiener Burgtheater zur Aufführung angenommen sein
sollen.
Das Deutsche Theater brachte Felix Philippi's
Schauspiel „Die kleine Frau". Das ist der Typus für die
handwerksmäßige Arbeit des spekulativen Geschäfts-
mannes, der sich klug der Mode des Tages anzupassen
versteht. Grobe Effekte, falsche Behandlung missver-
standener Probleme, kein Körnchen Psychologie, und —
was das wichtigste ist — „ein guter Ausgang". Da ist
die jetzt so moderne Frau, welche des lieben Geldes
halber an einen Barbaren gekettet ist, siehe die „Sklavin",
da ist der arbeiterfreundliche Fabriksherr, kurz alles,
was in der letzten Zeit nur irgend Wirkung erzielte und
modern geworden, findet sich hier auf das schmack-
hafteste für den Gaumen des Theaterpöbels zubereitet.
 
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