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Architektonische Rundschau: Skizzenblätter aus allen Gebieten der Baukunst — 23.1907

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Heft 1
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Widmer, Karl: Die Grundlagen des neuen Stils
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Gruner, Otto Rudolf: Feste Richtpunkte für den protestantischen Kirchenbau
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https://doi.org/10.11588/diglit.44950#0016

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1907

ARCHITEKTONISCHE RUNDSCHAU

Heft 1

werden, daß die führende Rolle der Architektur beim prote-
stantischen Kirchenbau bedauerlich wenig zur Geltung kommt
Der erste Vortrag von Prof. Dr. Clemen-Bonn brachte unter
der sehr allgemeinen Bezeichnung: Kirche und Kunst, eine
Auseinandersetzung mit der sogen. Tradition im Kirchenbau.
Während die Entwicklung der mittelalterlichen Kirche mit
ihrem Querschiff, den Chören, Doppelchören und Kapellen-
kranz unter dem Einflüsse und Zwang des wirklichen Bedürf-
nisses (z. B. Aufstellung zahlreicher Altäre) entstand, nahm die
protestantische Kirche diese für ihre Zwecke meist ganz un-
geeigneten, vielfach bedeutungslosen Grundformen ohne jeden
zwingenden Grund an und bemühte sich, ihnen die wahrhaft
kirchliche Stimmung anzuempfinden. Welche Täuschung, zu
erwarten, daß ein paar Spitzbögen und Maßwerke an einem
Kirchlein der Seele denselben weltentrückenden Aufschwung
verleihen könnten, wie der Pfeilerwald und Gewölbhimmel
eines Kölner Doms, wie die mystische Dunkelheit des Mai-
länder Doms, oder wie die schier unermeßlichen Hallen von
Westminster! Heute ist für den Kirchenbau die Stilfrage in
der Hauptsache eine überwundene Frage; was wir verlangen
ist »kirchliches Gefühl«. Clemen verlangt auch von den Ge-
meindekirchen Monumentalität und Kunst zur Weckung des
kirchlichen Gefühls. Ich will ihm fünfzig kleine Kirchen, nur
in Sachsen, namhaft machen, wo weder von Monumentalität,
noch höherer Kunst, desto mehr aber von echtem kirchlichen
Gefühl die Rede ist. Die Ansprüche des protestantischen
Gottesdienstes sind so überaus einfach; sein Geheimnis be-
steht darin, daß er die Andacht um so mehr fesselt und er-
wärmt, je enger der Gemeindekreis gezogen ist, je mehr die
Gläubigen sich als eine große Familie, als Glieder eines geist-
lichen Leibes, des Haupt Christus ist, fühlen. Den besten
Beweis liefern die christlichen Gemeinschaften und altgläubigen
Sekten, zu deren Begeisterung und »kirchlichem Gefühl« die
Versammlungsräume wahrlich nicht beizutragen vermögen.
Den Standpunkt der kleinen, zahlreichen Kirchen vertrat be-
sonders Pfarrer D. Sülze. — Dazu kommt die große Bedeutung,
die im protestantischen Gottesdienste der Verkündigung des
Wortes, der Predigt zufällt. Eine Kirche, auf deren sämtlichen
Sitzplätzen man den Prediger nicht ohne Anstrengung versteht,
erfüllt ihren Zweck höchstens teilweise. Moral: macht eine
Gemeindekirche nicht größer, den Kirchenraum nicht höher,
als nach den Regeln der Akustik zulässig ist. In diesem Sinne
sprach namentlich March; er empfahl auch schlichtere Decken-
gestaltung. Aber das ist ein sehr schwacher Punkt bei unsern
Kirchenbaumeistern; sie geben gewöhnlich dem Innenraum
Abmessungen, welche die mäßig gehobene menschliche Stimme
längst nicht mehr beherrschen kann, und gestalten Wände,
Decken und Einbauten, ohne die anderwärts damit gemachten


Versöhnungskirche in Architekten: Rumpel & Krutzsch in Dresden.
Dresden-Striesen *).
Erfahrungen im mindesten zu beachten. Die Akustik ist vor-
läufig noch eine empirische Wissenschaft; aber müssen denn
immer neue Gemeinden sich zu den Experimenten hergeben?
Wir haben — auch in Dresden — eine Anzahl neuere Kirchen,
die akustisch absolut verfehlt, nahezu wertlos sind; aber man
darf es ja nicht laut aussprechen, denn neben ihrer sonstigen
Schönheit »kommt ja das nicht in Betracht«. Mit diesem Ver-
tuschungssystem kommen wir aber nicht vorwärts.
Solange es sich nur um das alltägliche Bedürfnis, um
Parochialkirchen, handelt, werden also die Abmessungen ver-
hältnismäßig bescheiden ausfallen; der unnötigen Größen-
steigerung, um den Wettbewerb mit riesigen Geschäfts- und
Wohnhäusern zu bestehen, werden sie am besten durch den
Einbau in die Reihe oder die Errichtung auf Hinterland aus
dem Wege gehen. Mir scheint’s, als ob die gleichzeitige
Erbauung des Pfarrhauses, eines Gemeindehauses u. dergl. mit
ihren Gruppierungen unsern protestantischen Kirchenbau auf
neue, eigene Wege, mit stärkerer Betonung des malerischen
und gemütvollen Moments lenken könnte.
Clemen fordert, die Tore der
Kirche für die Kunst weit aufzu-
machen, den Künstlern möglichste
Freiheit zu gewähren, das Programm
möglichst knapp und allgemein zu
halten. Gleichwohl wird der Archi-
tekt nie vergessen dürfen, daß seine
Kunst nicht Selbstzweck ist, daß er
vielmehr auch beim Kirchenbau für
ein bestimmtes Bedürfnis zu schaffen
hat und daß die zweckmäßige Be-
friedigung dieses Bedürfnisses ihm
zur ersten Pflicht gemacht werden
muß. Diesen Gedanken vertrat na-
mentlich Oberpfarrer Brathe-Steuden,
der auch auf die nach Zeit und Ort
wechselnde Anschauung verwies.
Als einzige Voraussetzung und
Bedingung für Einräumung des
großen Maßes von Freiheit be-
zeichnet Clemen das schon er-
*) Aus dem im Verlage von Gerhard Küht-
mann in Dresden erschienenen Heftchen »Dresdens
neueste protestantische Kirchen« (vergl. Bücherbe-
sprechungen 2. Beilage).



Architekt: Rumpel & Krutzsch in Dresden.

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