1907
ARCHITEKTONISCHE RUNDSCHAU
Heft 12
sistorium und die Kirchenkonferenz, sondern die allgemein
herrschende Zeitströmung entscheidet. Mit lapidaren Regula-
tiven ist nichts getan. Von solchen kann der Architekt nur
behindert werden. Die Grundlage, auf der sich eine gesunde
Sakralarchitektur entwickeln kann, ist allein das allgemeine re-
ligiöse Gefühl.
Daß auch dieses seine Phasen hat, lehrt die Geschichte
der Menschheit — speziell auch die Geschichte des protestanti-
schen Kirchenbaus. Hat doch beispielsweise im letzten Jahr-
hundert ein bekannter sächsischer Theologe und Kunstschrift-
steller über die Stellung der Kanzel über dem Altar das
vernichtende Wort gesprochen, daß er gegen solche Kanzeln
am liebsten mit der Axt vorgehen möchte*). In demselben
Sachsen erfreute sich eben diese Kanzelstellung ein paar Jahr-
hunderte lang der größten Beliebtheit. Man kann nicht glauben,
daß all die Menschen, die sich damals in diesen Gotteshäusern
erbauten, an religiöser Gefühlsroheit litten. Andre Zeiten,
andre Anschauungen. Konfessionelle Bedenken liegen gegen
das Hinausrücken des Altars in einen erhöhten Chorraum nicht
vor. Die Achtung vor dem Tisch des Herrn ist nicht speziell
katholisch. Der Altar bildet auch den Mittelpunkt der Gottes-
häuser nichtchristlicher Religionen. In seiner ältesten Bedeutung
vertritt er die Stelle des heiligen Herdes. In diesem Sinne
ist er der Sammelpunkt der Familie, der Zufluchtsort der
Fremden, der Heimatlosen und Verfolgten. Der familiäre Ge-
meindesinn der evangelischen Kirche findet hier einen An-
knüpfungspunkt. Der Altar mag also, wie es z. B. in der
Kirche zu Rüsselsheim der Fall ist (eine Stufe erhöht), in der
Mitte des Saales, in der Mitte der Gemeinde stehen. Er mag
aber auch in eine Chornische gerückt werden, mit der Kanzel
am Chorpfeiler nebenan, so daß der Prediger seitlich neben
ihm steht, wie der Prologsprecher auf der mittelalterlichen
Mysterienbühne. War doch auch im altrömischen und ger-
manischen Hause der Herd oft einige Stufen erhöht. Eine
noch feierlichere Erhöhung in einen Chorraum mag sonach
statthaft sein, sobald sie nicht zur Isolierung wird; letzteres
wäre durchaus verwerflich.
Es fragt sich dagegen, ob sie dem Zeitgeist entspricht,
dem Zeitalter der sozialen Strömungen auf allen Gebieten.
Ein Blick auf den Kirchenbau im allgemeinen belehrt uns, daß
der Chor seit dem Mittelalter in stetigem Schwinden begriffen
ist. Von den großartigen alten Münsterchören bis herab in
die Gegenwart zeigt sich ein immer stärkeres Einschrumpfen
dieses Baugliedes, und es besteht eigentlich wenig Aussicht,
daß hierin ein Umschwung eintreten könnte. Nicht vom kon-
fessionellen, aber vom stilistischen Standpunkt aus scheint es
sich hier doch, wenn nicht alles täuscht, um eine Verkümmerung
zu handeln, die völlig durchzuführen nicht mehr verfrüht ist.
In dem Pützerschen Entwürfe sehen wir durch die Anlage
der oben erwähnten Strebepfeiler an den Ecken der Ostfront
noch äußerlich eine Chorerinnerung festgehalten. Überhaupt
fehlt es in dem ganzen Projekt nicht an Konzessionen. Solche
Äußerungen der Pietät verpflichten zu nichts.
Es sei hier gestattet, noch einen ganz flüchtigen Blick auf
die schon oben erwähnten alten sächsischen Dorfkirchen zu
werfen**). Ihr Wert liegt in ihrem engen Anschluß an die
Profanarchitektur. In diesen abgelegenen Dörfern, wo man
vielfach keine großen Vorbilder kannte, entwickelte sich, ähnlich
wie der klassische Tempelbau aus dem einfachen Wohnhaus***),
der Sakralstil aus dem Profanen. Diese Kirchen haben un-
endlich viel von den Häusern, zwischen denen sie aufwuchsen.
Das zeigt sich in der schlicht bäuerlichen Außenarchitektur,
den Dachbildungen, der Vorkragung des Obergeschosses (Groß-
rückerswalde), zeigt sich aber auch im Grundriß, in der Art,
wie einzelne Gebäudeteile, Vorhalle, Sakristei, dem Ganzen
angegliedert sind (Neuenhain). Diese Bauweise ist von den
Gehöftanlagen übernommen. In ihr kündigt sich bereits ein
Sinn für Gruppenbildung an, ein erster bescheidener Ansatz
*) Der Kirchenbau des Protestantismus. Herausgegeben von der
Vereinigung Berliner Architekten. Berlin 1893.
**) O. Gruner, Die Dorfkirche im Königreich Sachsen.
***) Dehio, Zur Genesis der Basilika.
zu der im Dreiwertsystem ausgesprochenen Idee des Zusammen-
schlusses von Sakral- und Profanbau in eine Gruppe. Gerade
in diesen Kirchen ist die Stellung des Altars vor der Kanzel
und somit die Fortlassung des Chors gebräuchlich, — ein
Beweis, daß dieser Gedanke einer ursprünglichen volkstüm-
lichen Empfindung entspricht und somit volle Daseinsberechti-
gung hat. Eine gewisse Volkstümlichkeit ist der Grundzug
evangelischen Wesens und muß deshalb im evangelischen
Kirchenbau in erster Linie betont werden.
Fassen wir so die Ergebnisse dieser kurzen Betrachtung
zusammen, so ergibt sich etwa folgendes:
Für die christliche Kirche haben Langhaus und Zentralbau
gleiche Berechtigung, ebenso für die deutsche Bauweise. Bei-
spiele beider Grundformen sind genügend auf deutschem Boden
vorhanden. Das Dreiwertsystem mit seiner Verschmelzung von
Sakral- und Profanbau erscheint in jeder Weise als befruchtend
und anregend und bietet nach allen Seiten hin Gelegenheit zu
freister Entwicklung. Endlich wird, was die Chorfrage be-
trifft, hierin wohl die persönliche Auffassung des Architekten
maßgebend sein dürfen; doch empfiehlt sich dafür die Berück-
sichtigung der herrschenden örtlichen Überlieferung.
□
□
in
in
Tafel 95. Altes Palais an der Promenade in Leipzig.
Architekt unbekannt.
Beschreibung der Abbildungen.
Tafel 89 u. 90. Wohnhaus in Charlottenburg, Mommsen-
straße 5. Fassade und Eingang. Architekt: Albert Qeßner in
Berlin.
Das Haus ist derart mit fünf benachbarten Gebäuden zu einer Gruppe
vereinigt, daß ein gemeinschaftlicher großer Garten auf dem Hinterplatze
zur Benützung der Bewohner
gewonnen wurde. Der Putz
der Fassade ist in gelblichem
Tone ausgeführt.
Tafel 91 u. 92.
Haus Commerell in Hö-
fen a. d. Enz. Musik-
zimmer, Eßzimmer und
Wohnzimmer. Architekt:
Hans Weirether in Stutt-
gart.
Die Ausstattung des von
Architekt Weirether in Stutt-
gart erbauten Hauses wurde
folgenden Firmen und Künst-
lern übertragen. Wohnzim-
mer: Firma Georg Schöttle
in Stuttgart; Eßzimmer:
Ornament der Decke, Paul
Haustein; Möblierung, Georg
Schöttle in Stuttgart; Musik¬
zimmer: Metallverkleidung des Heizkörpers, Paul Haustein; Möblierung,
Möbelfabrik Brauer in Stuttgart.
Tafel 93 u. 94. Wettbewerbentwurf für eine Synagoge
Frankfurt a. M. (zwei Varianten). Architekt: Josef Reuters
Wilmersdorf.
Tafel.96. Einfamilienhaus in Teschen. Architekt: Max,
H. Joli in Teschen.
Das Haus ist mit 25000 Kronen veranschlagt und für einen Künstler
bestimmt. Das Untergeschoß nimmt sämtliche Wirtschaftsräume auf, die
mit den Wohnräumen im Erdgeschoß durch einen Aufzug verbunden sind.
Das erste Stockwerk enthält die Schlafräume. Im Dachgeschoß liegt
nach Norden neben dem Atelier eine Dunkelkammer und gegen Süden ein
großes Studio, dem ein Balkon vorgebaut ist. Der Bauplatz liegt in einer
im Entstehen begriffenen Cottage-Anlage der Stadt Teschen. Die Formen
der Fassade schließen sich an die schlesische Bauweise an, ohne dieselbe
zu kopieren.
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ARCHITEKTONISCHE RUNDSCHAU
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sistorium und die Kirchenkonferenz, sondern die allgemein
herrschende Zeitströmung entscheidet. Mit lapidaren Regula-
tiven ist nichts getan. Von solchen kann der Architekt nur
behindert werden. Die Grundlage, auf der sich eine gesunde
Sakralarchitektur entwickeln kann, ist allein das allgemeine re-
ligiöse Gefühl.
Daß auch dieses seine Phasen hat, lehrt die Geschichte
der Menschheit — speziell auch die Geschichte des protestanti-
schen Kirchenbaus. Hat doch beispielsweise im letzten Jahr-
hundert ein bekannter sächsischer Theologe und Kunstschrift-
steller über die Stellung der Kanzel über dem Altar das
vernichtende Wort gesprochen, daß er gegen solche Kanzeln
am liebsten mit der Axt vorgehen möchte*). In demselben
Sachsen erfreute sich eben diese Kanzelstellung ein paar Jahr-
hunderte lang der größten Beliebtheit. Man kann nicht glauben,
daß all die Menschen, die sich damals in diesen Gotteshäusern
erbauten, an religiöser Gefühlsroheit litten. Andre Zeiten,
andre Anschauungen. Konfessionelle Bedenken liegen gegen
das Hinausrücken des Altars in einen erhöhten Chorraum nicht
vor. Die Achtung vor dem Tisch des Herrn ist nicht speziell
katholisch. Der Altar bildet auch den Mittelpunkt der Gottes-
häuser nichtchristlicher Religionen. In seiner ältesten Bedeutung
vertritt er die Stelle des heiligen Herdes. In diesem Sinne
ist er der Sammelpunkt der Familie, der Zufluchtsort der
Fremden, der Heimatlosen und Verfolgten. Der familiäre Ge-
meindesinn der evangelischen Kirche findet hier einen An-
knüpfungspunkt. Der Altar mag also, wie es z. B. in der
Kirche zu Rüsselsheim der Fall ist (eine Stufe erhöht), in der
Mitte des Saales, in der Mitte der Gemeinde stehen. Er mag
aber auch in eine Chornische gerückt werden, mit der Kanzel
am Chorpfeiler nebenan, so daß der Prediger seitlich neben
ihm steht, wie der Prologsprecher auf der mittelalterlichen
Mysterienbühne. War doch auch im altrömischen und ger-
manischen Hause der Herd oft einige Stufen erhöht. Eine
noch feierlichere Erhöhung in einen Chorraum mag sonach
statthaft sein, sobald sie nicht zur Isolierung wird; letzteres
wäre durchaus verwerflich.
Es fragt sich dagegen, ob sie dem Zeitgeist entspricht,
dem Zeitalter der sozialen Strömungen auf allen Gebieten.
Ein Blick auf den Kirchenbau im allgemeinen belehrt uns, daß
der Chor seit dem Mittelalter in stetigem Schwinden begriffen
ist. Von den großartigen alten Münsterchören bis herab in
die Gegenwart zeigt sich ein immer stärkeres Einschrumpfen
dieses Baugliedes, und es besteht eigentlich wenig Aussicht,
daß hierin ein Umschwung eintreten könnte. Nicht vom kon-
fessionellen, aber vom stilistischen Standpunkt aus scheint es
sich hier doch, wenn nicht alles täuscht, um eine Verkümmerung
zu handeln, die völlig durchzuführen nicht mehr verfrüht ist.
In dem Pützerschen Entwürfe sehen wir durch die Anlage
der oben erwähnten Strebepfeiler an den Ecken der Ostfront
noch äußerlich eine Chorerinnerung festgehalten. Überhaupt
fehlt es in dem ganzen Projekt nicht an Konzessionen. Solche
Äußerungen der Pietät verpflichten zu nichts.
Es sei hier gestattet, noch einen ganz flüchtigen Blick auf
die schon oben erwähnten alten sächsischen Dorfkirchen zu
werfen**). Ihr Wert liegt in ihrem engen Anschluß an die
Profanarchitektur. In diesen abgelegenen Dörfern, wo man
vielfach keine großen Vorbilder kannte, entwickelte sich, ähnlich
wie der klassische Tempelbau aus dem einfachen Wohnhaus***),
der Sakralstil aus dem Profanen. Diese Kirchen haben un-
endlich viel von den Häusern, zwischen denen sie aufwuchsen.
Das zeigt sich in der schlicht bäuerlichen Außenarchitektur,
den Dachbildungen, der Vorkragung des Obergeschosses (Groß-
rückerswalde), zeigt sich aber auch im Grundriß, in der Art,
wie einzelne Gebäudeteile, Vorhalle, Sakristei, dem Ganzen
angegliedert sind (Neuenhain). Diese Bauweise ist von den
Gehöftanlagen übernommen. In ihr kündigt sich bereits ein
Sinn für Gruppenbildung an, ein erster bescheidener Ansatz
*) Der Kirchenbau des Protestantismus. Herausgegeben von der
Vereinigung Berliner Architekten. Berlin 1893.
**) O. Gruner, Die Dorfkirche im Königreich Sachsen.
***) Dehio, Zur Genesis der Basilika.
zu der im Dreiwertsystem ausgesprochenen Idee des Zusammen-
schlusses von Sakral- und Profanbau in eine Gruppe. Gerade
in diesen Kirchen ist die Stellung des Altars vor der Kanzel
und somit die Fortlassung des Chors gebräuchlich, — ein
Beweis, daß dieser Gedanke einer ursprünglichen volkstüm-
lichen Empfindung entspricht und somit volle Daseinsberechti-
gung hat. Eine gewisse Volkstümlichkeit ist der Grundzug
evangelischen Wesens und muß deshalb im evangelischen
Kirchenbau in erster Linie betont werden.
Fassen wir so die Ergebnisse dieser kurzen Betrachtung
zusammen, so ergibt sich etwa folgendes:
Für die christliche Kirche haben Langhaus und Zentralbau
gleiche Berechtigung, ebenso für die deutsche Bauweise. Bei-
spiele beider Grundformen sind genügend auf deutschem Boden
vorhanden. Das Dreiwertsystem mit seiner Verschmelzung von
Sakral- und Profanbau erscheint in jeder Weise als befruchtend
und anregend und bietet nach allen Seiten hin Gelegenheit zu
freister Entwicklung. Endlich wird, was die Chorfrage be-
trifft, hierin wohl die persönliche Auffassung des Architekten
maßgebend sein dürfen; doch empfiehlt sich dafür die Berück-
sichtigung der herrschenden örtlichen Überlieferung.
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in
Tafel 95. Altes Palais an der Promenade in Leipzig.
Architekt unbekannt.
Beschreibung der Abbildungen.
Tafel 89 u. 90. Wohnhaus in Charlottenburg, Mommsen-
straße 5. Fassade und Eingang. Architekt: Albert Qeßner in
Berlin.
Das Haus ist derart mit fünf benachbarten Gebäuden zu einer Gruppe
vereinigt, daß ein gemeinschaftlicher großer Garten auf dem Hinterplatze
zur Benützung der Bewohner
gewonnen wurde. Der Putz
der Fassade ist in gelblichem
Tone ausgeführt.
Tafel 91 u. 92.
Haus Commerell in Hö-
fen a. d. Enz. Musik-
zimmer, Eßzimmer und
Wohnzimmer. Architekt:
Hans Weirether in Stutt-
gart.
Die Ausstattung des von
Architekt Weirether in Stutt-
gart erbauten Hauses wurde
folgenden Firmen und Künst-
lern übertragen. Wohnzim-
mer: Firma Georg Schöttle
in Stuttgart; Eßzimmer:
Ornament der Decke, Paul
Haustein; Möblierung, Georg
Schöttle in Stuttgart; Musik¬
zimmer: Metallverkleidung des Heizkörpers, Paul Haustein; Möblierung,
Möbelfabrik Brauer in Stuttgart.
Tafel 93 u. 94. Wettbewerbentwurf für eine Synagoge
Frankfurt a. M. (zwei Varianten). Architekt: Josef Reuters
Wilmersdorf.
Tafel.96. Einfamilienhaus in Teschen. Architekt: Max,
H. Joli in Teschen.
Das Haus ist mit 25000 Kronen veranschlagt und für einen Künstler
bestimmt. Das Untergeschoß nimmt sämtliche Wirtschaftsräume auf, die
mit den Wohnräumen im Erdgeschoß durch einen Aufzug verbunden sind.
Das erste Stockwerk enthält die Schlafräume. Im Dachgeschoß liegt
nach Norden neben dem Atelier eine Dunkelkammer und gegen Süden ein
großes Studio, dem ein Balkon vorgebaut ist. Der Bauplatz liegt in einer
im Entstehen begriffenen Cottage-Anlage der Stadt Teschen. Die Formen
der Fassade schließen sich an die schlesische Bauweise an, ohne dieselbe
zu kopieren.
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