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Architektonische Rundschau: Skizzenblätter aus allen Gebieten der Baukunst — 23.1907

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1907

ARCHITEKTONISCHE RUNDSCHAU

Heft 9

Wartesaal im Bahnhof zu Nürnberg. Architekt: Bruno Paul in Berlin.


Marmorner Wandbrunnen.
j'Ausgeführt von den Vereinigten Werkstätten für Kunst.im Handwerk, Gi.m. b.'H.,. in München .
recht auf neue eigene Kunst zugesteht —, wird es vor allem schmerzlich
empfinden, daß gerade an dieser Stelle die tastende Unsicherheit, die Äußer-
lichkeit und das Scheinwesen so augenfällig und dauernd verkörpert worden
sind, die den gärenden Zwiespalt in unsrer Architektur der letzten Jahr-
zehnte kennzeichnen.
Ja, wären an diesen Neubauten die abweichenden neuen Formen wirk-
lich selbständig und selbstverständlich behandelt, die neuen Aufgaben auch
in neuem Geiste sicher und monumental gelöst, wir würden gewiß den-
selben erfreulich befriedigenden Eindruck gewinnen, wie so oft im Innern
der Stadt, wo die großen und kleinen Werke der Gotik und Renaissance,
von Barock und Rokoko einträchtig und eindrucksvoll sich aneinanderreihen.
Zum mindesten aber dürften wir sicher erwarten, daß die Zeit, sobald
sie die Härten des allzu Neuen durch ihre Patina etwas gemildert, auch
diese Neubauten sowohl unter sich, als mit dem ehrwürdigen alten, turm-
und mauerumkränzten Stadtbilde vor uns

trachtung des historisch Gewor-
denen vertiefen. Manches ist auch
da anders geworden; mehr noch
erscheint uns heut anders als vor
wenigen Jahren.
Von genußreichem Schauen
rastend möchten wir bei behag-
lichem Trunk die köstliche Stim-
mung, die uns in den Straßen und
Gäßchen fast noch wie einst um-
fing, fortwirken lassen. Aber die
Stimmung weicht; wir empfinden
das künstlich Gemachte in der »stil-
vollen« Einrichtung ä la Mittelalter
jetzt ebenso störend, wie den sich
dazwischendrängenden Jugendstil-
unfug. Immer peinlicher wird inuns
das Empfinden, das uns schon am
Bahnhofe überkam, der Überdruß
an Halbheit und erborgtem Flitter.
Verstimmt kehren wir zum
Bahnhofzurück,zufrühzurAbfahrt;
zu kurzer Rast betreten wir noch
den Wartesaal. Erstaunt schauen
wir um uns und erleichtert atmen
wir auf. Wohlig wie frische Mor-
genluft umfängt uns die klare Be-
stimmtheit, der einheitliche Aus-

Pfeilerfigur im Wartesaal des Bahnhofs
zu Nünberg.
Bildhauer: Adolf Bermann in München.


druck eines sichern Wollens und Könnens, das für die neue Aufgabe auch
den neuen selbständigen Ausdruck zu finden weiß. Und fast selbstverständ-
lich erscheint uns die Art, wie die neue Form geprägt ist.
Hohes Getäfel aus dunkelgrau gebeiztem Eichenholz in ernster ein-
facher Gliederung umzieht die Wände des 25 zu 16 m messenden und 8 m
hohen Saales. Je fünf tiefe Nischen gliedern die Langseiten und schneiden
mit langen Stichkappen in die flache Wölbung der Decke ein, an der orna-
mentierte Quergurte sich von Pfeiler zu Pfeiler spannen. In die mittelste
Nische gegenüber der Fensterseite ist das große Büfett eingebaut.
Zwischen dem dunklen Holzwerk und dem Weiß der obern Wandflächen

und Gewölbe vermittelt das zarte Grau des Marmors, in dem die Pfeiler-
figuren, die glatten Einfassungen der Türen in den Stirnwänden mit den
Gruppen kleiner Säulen darüber sowie die Uhren ausgeführt sind, ver-
mitteln die schwarzen und roten geometrischen Einlagen im Getäfel und die
blanken Metallbeschläge, die kleinen Wandleuchter, die blinkenden Heiz-
bleche, die Kleiderhaken und nicht zum wenigsten die zierlichen Marmor-
wandbrunnen. Bunte Mosaikbilder beleben das Weiß der Wandflächen
und graziös schweben von der Decke herab an reichen Perlengehängen,
in mehreren konzentrischen Kreisen um größere und kleinere Laternenkörper
geordnet die in langen fuchsienförmigen Gläsern geborgenen Lampen,
mit ihrem Rhythmus und den seitlichen Schnüren die Raumwirkung aufs
glücklichste vollendend. — Durchaus nichts erschütternd Neues also in den
Mitteln: Gewölbe, Paneele, hängende Lampen, Metall, ein wenig Marmor
und Mosaik, und in dem weißen Stuck einfache Ornamentpressungen, deren
Einzelformen sich unbeschadet des Ganzen auch anders gestalten ließen —
und doch sind diese Mittel so eigenartig verwendet, so streng zusammen-
gehalten und so harmonisch ohne alle sensationslüsterne Willkür anein-
andergefügt, daß wir mit Behagen ihre Wirkung empfinden: ein dem
Zweck und der Würde des Gebäudes angemessener Raum, der unsern
Bedürfnissen in jeder Hinsicht entspricht, hell und luftig, freundlich, be-
haglich und vornehm zugleich — eine zeitgemäße Lösung. tz.

versöhnend und wirkungsvoll zusammen-j
stimmen werde. Doch je mehr wir den
Wesensinhalt und -ausdruck dieser so ver-
schiedenen und ungleichwertigen neuen
Gebilde mit der bewußten Selbstverständ-
lichkeit des Alten vergleichen, desto^
schwächer wird diese Hoffnung. Gleich-®
wohl aber empfinden wir anderseits um
so stärker die an diesen Werken einer
kurzen Zeitspanne immer deutlicher her-
vortretenden Spuren einer fortschreiten-g
den, auf die Befreiung von den Kompro-j
missen äußerlicher Formenüberlieferung
abzielenden Entwicklung.
Leider ist diese auch in dem neuesten
und bedeutendsten Gebäude, dem neuen
Bahnhofe noch nicht zur Reife gelangt.
Hätte diese echt neuzeitliche Aufgabe eine
der großzügigen Anlage entsprechende,
kraftvoll selbständige architektonische Lö-
sung gefunden, so würde unzweifelhaft
die Kluft zwischen den Werken der Gegen-
wart und der Vergangenheit überbrückt
erscheinen.
Nicht den äußeren Unterschied in
den Einzelheiten der Stilformen würden
wir mehr empfinden, sondern die innere
Verwandtschaft des organisch zweck- und
zeitgemäß Gestalteten. Wie die stolze Hoch-
renaissance des Rathauses mit der roma-
nisch-gotischen Sebalduskirche müßte ein
solcher Neubau mit Alt-Nürnberg harmo-
nisch zusammenklingen.
Der Gedanke begleitet uns auf unserm
Rundgange durch die Stadt und gewinnt
neue Belebung, je mehr wir uns in die Be-

Wartesaal 1. und 2. Klasse im Bahnhof zu Nürnberg, Architekt: Bruno Paul in Berlin
Ausgeführt von den Vereinigten Werkstätten für Kunst im Handwerk, G. m.b.H., in München.
 
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