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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 37.1902

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Heft 1
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Das Buch für Alle.

gleich aufblitzten. „Kind, du weißt gewiß nicht,
was du sagst!"
„Aber wenn wir nun heute keinen Schinken und
keinen Thee hätten, Papa! Nein, da hole ich's doch
lieber selbst!"
„Du!" murmelte der Vikomte, schwermütig auf-
blickend. „Du läufst im Nebel zu Fuß umher wie
ein Proletarierkind, und der reichgewordene Pöbel
rollt im Wagen an dir vorüber, wirft dir Staub und
Schmutz in den Weg. Meine Kasse ist zwar fast
geleert, bis der nächste Erste die wenigen Zinsen
hineinwirft, von denen wir notdürftig leben, aber
das wird mich nie hindern — hörst du, nie! —
diesen Heraufgekommenen zu zeigen, in westen Adern
edles Blut rollt und in wessen der Mischmasch der
Allgemeinheit."
„Wer hätte hierzu ein größeres Recht als du,"
sagte das junge Mädchen, als der Vikomte, von dem
aufgewandten Pathos erschöpft, zu hüsteln begann,
und heftete ihre dunklen Augen voll tiefster Ver-
ehrung auf die hageren Züge des Sprechers.
„Sieh dir die heutigen Zustände an," fuhr der
Vikomte mit schwächerer Betonung fort, „was ist
oben auf? Geldsack und Protzentum. In jenen
gesegneten Zeiten vor der Revolution, der meine
Großeltern entfliehen mußten, um ihr Leben zu
retten, gab's noch Unterschiede. Der Adel der Ge-
burt, der das Unveräußerliche am Menschen ist, weil
er damit bevorrechtet zur Welt kommt, diente den
niederen Klassen noch nicht zur Zielscheibe des Spottes.
Sie wagten noch nicht, sich Seite an Seite mit den
Edelsten des Landes stellen zu wollen. Und diese
Edelsten schmeicheln heutzutage wohl noch gar der
Masse, die man mit Wohlthaten erdrücken könnte,
ohne Dank zu ernten."
„Rege dich nicht auf, Papa!" bat die kleine Vi-
komtesse. „Ich null gewiß stets daran denken, wer
ich bin."
„Wie könntest du anders," sagte der Vikomte,
die liebreizende Gestalt seiner Tochter zärtlich be-
trachtend, „solange du den Namen trägst, welcher
wie ein Kleinod an unserer Familie haftet: Marie
Antoinette."
„Glaubst du, Papa, daß dieser Name Glück
bringt?" fragte sie leiser. „Es hängt ihm so viel
Trauriges an."
„Schäme dich!" fuhr der Vikomte auf. „Es war
in den Glückstagen der edlen Königin, als sie der
Tochter ihrer ergebensten Freundin den eigenen
Namen in der Taufe beilegte. Seitdem erbt sich der
Name in unserer Familie als köstlichstes Kleinod fort."
„Natürlich bin ich stolz darauf, Papa, und
wünschte von Herzen, es hätte keine scheußlichen Revo-
lutionstribunale und Guillotinen gegeben und wie
all das böse Zeug noch heißt. Ich wünschte, es
wandelte wieder eine so holdselige Königin, wie du
sie schilderst, durch das Versailler Schloß. Dir gäbe
sie gewiß den ersten Posten bei Hofe und machte
dich zum reichen Manne, wie die arme Marie An-
toinette es so gerne that. Und ich —" sie lächelte
schelmisch — „für die kleine Debellaire fiele vielleicht
ein Ehrenfräuleinpöstchen ab."
Ganz erbaut von ihrem Phantasiegebäude klatschte
sie in die Hände und verneigte sich dann tief. „Er-
gebensten Dank, Eure Majestät, wollen Sie aller-
gnädigst über mich befehlen. Nur bitte ich, meine
Ungewandtheit huldvollst zu verzeihen! — Was,
Papa, ich mache mich gut!"
„Armes, liebes Kind," sagte er bewegt.
„Weißt du, was ich denke?" flüsterte sie, seine
Wange streichelnd. „So mancher und so manche sind
nicht vermögender als wir und leben doch vergnügt."
„Ich bin nicht mancher, und du bist nicht manche,"
fiel der Vikomte grollend ein. „Wenn dir's zu-
lässig erscheint, einst die Nadel zur Hand zu nehmen
und dich ablohnen zu lassen von —"
„Ich könnte so schön in ein Fräuleinstift gehen,
Papa!" unterbrach sie ihn ungekränkt und schalkhaft.
„Denk', ich sei schon ein Altjüngferchen. Den Mops
kannst du mir schon zu Weihnachten schenken."
„Kindskopf!"
„Ja, wahrhaftig, Papa, da hast du recht," sagte
Marie Antonie, und ihre Haltung ward zusehends
unsicherer, während sie die Pakete von der Tischplatte
aufnahm, sie in die Küche zu tragen. „Ich war
heute — aber böse darfst du nicht sein — ich habe
vorhin eine kolossale Dummheit gemacht. Am liebsten
möchte ich mich selbst ohrfeigen. Bitte, thu du's,
Papa!" Sie hielt ihm ihre weiche Wange hin.
„Klatsche nur ordentlich zu, Papa! Ich verdien's!"
„Eine Dame deines Standes —"
„Ach, mein Stand hat damit gar nichts zu thun,
Papa, bloß meine Kurzsichtigkeit. Am Theeladen ist's
passiert, auf der letzten Steinstufe. Jemand sprach
mich an. Verstanden hab' ich bloß das Wort,bittesi
Und weil ich gerade selbst so schönen Appetit hatte,
schenkte ich ihm einen Groschen. ,Da, essen Sie sich
satt!' — .Tanke/ sagte der Mann— es war näm¬

lich ein Manu, und, Gott sei Dank, Papa, noch ein
junger, sonst wär's noch schrecklicher gewesen — .er-
gebensten Dank, mein Fräulein, für Ihre Güte. Ich
wollte Ihnen eigentlich nur diefes Paketchen über-
reichen, welches Sie fallen ließen, ohne es zu be-
merken/" — Denk dir diese Blamage, Papa!"
„Und dein Groschen?"
„Richtig, den hat er behalten. Ich war so er-
schreckt und beschämt, daß ich daran gar nicht mehr
dachte. Hätte ich denn sagen können: jetzt geben
Sie nur meinen Groschen zurück?"
„So, so!" murmelte der Vikomte, das lebhaft ge-
färbte Gesicht seiner Tochter betrachtend. „Das
kommt also doch vor! — Ich wünsche, mein Kind,
ja, ich befehle es, daß diese Gänge in Zukunft unter-
bleiben. Lieber will ich nichts zu Abend essen!"
„Gewiß, gewiß, Papa! Ich werde es der Auf-
wärterin noch kräftiger eintrichtern, was sie nicht zu
vergessen hat. Du solltest nur wissen, wie dumm ich
war."
„Hast du einen Begriff, wie der Mann aussah?"
fragte der Vikomte mit väterlichem Mißtrauen.
„Groß war er, sehr schlank — ich glaube blond,"
sagte Marie Antonie arglos. „Sehr weiße Zähne
hatte er auch. Ich sah sie deutlich genug bei dem
fatalen Lächeln."
„So, so. — Nun, sieh jetzt zu, daß wir bald eine
Taffe Thee haben. Und höre — um Groschenalmosen
zu geben, müßten meine Einnahmen größer sein."
Sie nickte lächelnd. „Kommt nicht wieder vor,
Papa!" Damit eilte sie aus der Thür.
Ihm war heiß geworden bei der Unterredung,
ein schmerzhafter Druck lastete auf seiner Brust. Seine
dreiundfünfzig Jahre waren's nicht, welche ihm dieses
Angstgefühl bereiteten, es war der innere Feind, den
er mit sich Herumtrug, seit ein schwer überstandener
Gelenkrheumatismus das Herz in Mitleidenschaft
gezogen hatte. Diese nachgebliebene Herzschwäche,
welche durch Sorgen und Kümmernis noch verschlim-
mert wurde, verfehlte niemals, sich dem Vikomte bei
jeder Erregung merkbar in Erinnerung zu bringen.
Freilich wäre für solchen Gesundheitszustand eine
trockene, sonnige Wohnung ersprießlicher gewesen,
aber für die geringe Miete, welche er zu zahlen im
stände war, hätte ihm in den eleganten Quartieren
keine Wohnung zur Verfügung gestanden, es sei denn
eine unterm Dach. Und dagegen sträubte sich sein
Standesbewußtsein.
Der Vikomte hörte den Schritt seiner Tochter,
und seine Gedanken kehrten zu ihr zurück. Was sollte
aus diesem reizenden Kinde werden, wenn er ihre
Hand ungestützt aus der seinen gleiten lassen mußte?
Der Stamm der Debellaires starb mit ihm aus, und
er hinterließ so gut wie nichts.
Einige reiche Heiraten — auch die letztverstorbene
Vikomtesse hatte hübsches Heiratsgut in die Ehe ge-
bracht — hatten die einstigen Grandseigneurs zwar
zeitweise in die Möglichkeit versetzt, gut zu leben,
ohne zu arbeiten; aber das Kapital wurde dabei
leider immer kleiner, der Zinsfuß sank auch immer
tiefer — und so war man mit dem Gelde immer
schnell fertig, und das alte Elend fing wieder an.
Weshalb hatten nach Beendigung der Revolution
nicht auch seine Großeltern eine erfolgreiche Rückkehr
und Aufnahme an den Hof des achtzehnten Ludwig
angestrebt?
Wenn der Vikomte auf diese Frage kam, hörte
jede Gemütlichkeit für ihn auf, denn mit eiserner
Hartnäckigkeit versteifte er sich darauf, in dieser aller-
dings befremdlichen Thatsache die Quelle aller Ent-
behrungen und Sorgen um die Zukunft seiner Tochter
zu sehen.
Bei solchen Grübeleien spann sich der alternde,
weltfremde Mann rettungslos in die Schattenherr-
lichkeit eines zermorschten und fortgefegten Herrscher-
thrones ein, fo daß er für sich und sein heranwach-
sendes Kind keine bessere Lektüre zu finden wußte,
als Bücher und Berichte aus jener längst vergangenen
Periode, die das altfranzösische Königtum priesen.
Da war es ihm nun eine Lust, zu sehen, wie auch
Marie Antoniens Augen in Staunen und Entzücken
ausstrahlten, nicht anders, als wenn eine gütige
Muhme die gläubige Phantasie der Kinder mit
Himmels- und Erdenwundern in Glut versetzt.
Bei der spärlich leuchtenden Petroleumlampe,
einen Bratapfel vor sich, den Strickstrnmpf in der
Hand, sah sich dann die kleine Vikomtesse am Arme
ihres hochgestellten Vaters reichgeschmückt über das
Spiegelparkett des Versailler Schlaffes rauschen, um-
geben von köstlich gekleideten Herren, vollendeten
Mustern von Eleganz und höfischem Wesen. Und
eine wahre Todesangst beklemmte ihr Herz, diesen
geistreich scherzenden Herren eine witzelnde und doch
würdevolle Antwort geben zu sollen und nicht geben
zu können.
Darüber wurde der vergessene Bratapfel kalt,
und der Strumpf sank ungestopft in den Schoß. Wer
vermochte auch bei solcher Herrlichkeit die Stopfnadel

Heft 1.
zu regieren oder den betrüblichen Zustand der ver-
löschenden Lampe zu gewahren?
„Bleib nur^ sitzen, Papa!" schreckte Marie An-
toniens Helle Stimme den vor sich hin Brütenden
ans. „Ich stelle alles vor dich hin!"
Sie sah allerliebst aus in der Hellen Hausschürze,
welche sie sorglich um ihr Kleid gebunden, da in
diesem Jahre unmöglich eine Toilette für sie abfallen
konnte. Und als sie mit ihren schönen Händen —
einem Erbteil ihrer Urgroßmutter, deren Reize am
Hofe Ludwigs XVI. ebenso berühmt gewesen waren
wie ihre Hurtigkeit, dem alternden Gemahl den
letzten Rest Vermögen aufzehren zu helfen — wie
Marie Antonie mit diesen ererbten schönen Händen
dem Vater die Semmelschnitten belegte und hin-
reichte, verbreitete ihre Anmut und Herzensfreudig-
keit über das ärmliche Mahl einen wahrhaft ver-
klärenden Schimmer.
„Du sprachst von deinem großen Appetit," scherzte
der Vikomte, als sie ihm die dampfende Tasse Thee
reichte. „Jetzt beweise ihn durch die Thatsache. Ich
bin hiermit vollständig befriedigt, der Rest des
Schinkens ist für dich."
„Jetzt reut mich doch mein schöner Groschen," sagte
das junge Mädchen lächelnd.
„Mich auch," versetzte er. „Aber — still, Kind,
es kommt jemand!"
Ein scharfer Zug an der Flurglocke erschreckte
Vater und Tochter.
„Du bleibst!" befahl Herr v. Debellaire, seine
Decke zurückschiebend, um sich langsam in Bewegung
zu setzen. „Wie darfst du daran denken, einem
Fremden abends die Thür zn öffnen!" Der Vikomte
ergriff die Tischlampe und ging nach der Flurthür.
„Wer ist da?"
„Der Telegraphenbote."
„Ein Telegramm an den Vikomte v. Debellaire?"
fragte er mißtrauisch.
„Jawohl."
Die Linke des Grafen hob den Eisenhaken der
Schutzkette aus der Krampe. Ein Spalt that sich
ans, just weit genug, daß die das Telegramm hal-
tende Hand sich hindurch strecken konnte.
Amadeus v. Debellaire nahm das Telegramm
und hielt es prüfend gegen das Licht, als wollte er
durch den Umschlag hindurch den Inhalt heraus-
lesen, so sehr überraschte ihn dieses ganz außer-
gewöhnliche Ereignis.
Langsam kehrte er ins Zimmer zurück, wo Marie
Antonie neugierig ihm entgegensprang.
„Räume ab, mein Kind!"
Der Tisch war rasch leer geworden, aber der
Vikomte drehte noch immer mit nervöser Unruhe das
Telegramm uneröffnet in den Händen.
„Ich kann mich mit diesen modernen Einrich-
tungen niemals befreunden," sagte er lebhaft. „Es
sind elektrische Ladungen, die dem Feinveranlagten
einen Schlag versetzen. Welche Wichtigkeit, frage ich
dich, maßt sich die Persönlichkeit an, die uns spät
abends einen Telegraphenboten über den Hals jagt!
Warum hat sie sich nicht einen standesgemäßen Brief
abgemüßigt? Bin ich dafür verantwortlich, daß die
heutige Menschheit sich einbildet, keine Zeit zu haben?
Zeit haben gehört zum Anstand. —- Ich habe Zeit!
Ich habe Zeit!"
Er trachtete die schädliche Nervenspannung durch
einen Spaziergang im Zimmer auszugleichen, indem
er die Versicherung seines Reichtumes an Zeit etliche-
mal wiederholte. Endlich hatte der Vikomte sich so
weit beruhigt, daß er seinen Lehnsessel wieder ein-
nehmen konnte, zum Entzücken des vor Neugier-
glühenden jungen Mädchens.
Er schlug das Papier auseinander. „Sehr selt-
sam! Da lies! Verstehst du's?"
„Ja — das heißt, ich weiß nicht, wer das ist."
„Deine verstorbene Mutter hatte eine Stieftante,
deren Tochter muß es sein. Ich wundere mich, den
Namen im Gedächtnis behalten zu haben."
Er las noch einmal halblaut: „Werde morgen
vormittag das Vergnügen haben. Sie aufzusuchen.
Freifrau Klementine v. Lüttmig."
„Was will sie denn — diese Klementine?" fragte
Marie Antonie kleinlaut.
„Das mußt du sie fragen, nicht mich. Jedenfalls
wird sie aufgesordert werden, das Mittagessen bei
uns einzunehmen, mein Kind. — Suppe, Gemüse,
Fleisch, Braten, Torte, Kaffee!"
„Aber Papa!" rief die kleine Vikomtesse, jedes
neue Gericht mit lauterem Händeklatschen begleitend.
„Du spaßest!"
„Der Debellaires soll sich kein Mensch zu schämen
haben. Und frische Blumen besorgst du auch."
„Blumen? Aber Papa —"
Der kleinen Vikomtesse bangte vor all dem Glanze,
der sich um sie her verbreiten sollte, und doch schlug
ihr dabei das Herz vor Freude und Erwartung ....
Noch nie hätte sie das Morgenlicht so froh be-
grüßt wie am folgenden Tage.
 
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