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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 37.1902

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Heft 1
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https://doi.org/10.11588/diglit.44085#0017
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Das Buch für Alle.

Heft I.

nächsten Morgen in der gewöhnlichen Weise zum
Bahnhof begebe.
Seine irreführende Mitteilung au Delius konnte
nur einen Zweck haben, wenn auch die Zeit der
Abreise in Dunkel gehüllt blieb.
Reinhold ging in sein Schlafzimmer und warf
sich angekleidet auf das Bett. Nach einigen Minuten
erhob er sich wieder, die Kissen sahen jetzt aus, als
wenn jemand die ganze Nacht darin gelegen hätte.
Daun horchte er an der Thür, die auf den Korri-
dor führte.
Frau Müller, die Haushälterin, pflegte sich nm
diese Zeit bereits in ihr Zimmer zurückznziehen,
denn sie liebte die Ruhe und den Schlaf über alles.
Das Mädchen hielt sich im Souterrain auf, und der
Gärtner Brömel wohnte mit seiner Fran im Anbau
nach hinten hinaus — es war also möglich, die

Villa zu verlassen, ohne von einem der Hausgenossen
bemerkt zu werden.
Reinhold warf seinen Mantel um die Schultern
und nahm den Lederkoffer in die Hand; dann
fiel sein Blick auf den Schreibtisch, wo noch die
beiden Briefe lagen, von denen der eine an das
kaiserliche Postamt, der andere au den Rechtsanwalt
Delius gerichtet war. Sie sollten in den Vormittags-
stunden des folgenden Tages an ihre Adresse be-
fördert werden, aber schließlich konnte man sie eben-
sogut im Laufe der Nacht dem Postkasten über-
geben, abgestcmpelt wurden sie doch erst am nächsten
Morgen.
Reinhold steckte die beiden Schreiben in seine
Brusttasche, drehte das elektrische Licht aus und
verließ auf den Zehen das Zimmer.
Er gelangte unbemerkt aus der Villa und durch

den Vorgarten auf die Straße, hörte, daß es von
irgend einem benachbarten Turme Zehn schlug, und
stellte an einer Laterne seine Uhr. Dann ging er
langsam in der Richtung des Zentralbahnhofs, nm
dort seinen Koffer einstweilen abzugebcn.
Unterwegs sah er einen Dieustmann und über-
legte, daß die Sache sich noch bequemer cinrichten
lasse. Er winkte den Mann heran, übergab ihm
das Köfferchen nebst einem Hundertmarkschein und
beauftragte ihn, das Gepäck beim Bahnhofsportier
abzngeben, sodann eine Fahrkarte erster Klasse für
den Hamburger V-Zug zu lösen und ihm endlich
Gepäckschein und Fahrkarte in ein bestimmtes Re-
staurant der Eschenheimerstraße zu bringen.
Das bezeichnete Lokal war zweiten oder dritten
Ranges, Reinhold war niemals darin gewesen und er
konnte ziemlich sicher sein, dort unerkannt zu bleiben.

lla; Vorreigen von kuääiicis 2cilin im Lempeiboie ru llanäg (Legion). 8j


Nach Verlauf einer Stunde hatte der angehende
Weltreifende Fahrkarte und Gepäckschein in der
Tasche. Er aß etwas zur Nacht, trank noch ein
paar Glas Bier und als der neue Tag angebrochen
war, verließ er die Kneipe, wickelte sich in seinen
Mantel und bummelte langsam durch die Anlagen.
Dieser heraufsteigende Morgen war köstlich und
noch köstlicher war das Gefühl absoluter Freiheit
und Uugcbundenheit.
Reinhold überlegte nicht, daß er sich bei seiner
selbständigen Stellung jeden Tag und jede Stunde
denselben Genuß auf weniger abentenerliche Weise
verschaffen konnte. Das Wort von dem „Unter-
tauchen" hatte nun einmal in seiner Seele Wurzel
geschlagen, und eine gewisse ihm angeborene Pedan-
terie zwang ihn, den einmal gefaßten Entschluß bis
zu seinen allerletzten Folgerungen auszuführen.
Er vertiefte sich immer mehr in die Vorstellung,
daß er es seiner Gesundheit schuldig sei, für einige
Zeit alle sozialen Fäden abzuschneidcn, um sich in
der Stille eines Erdenwinkels zu erneuern, nnd da-
bei kitzelte ihn ganz besonders die Gewißheit, zu jeder
Sekunde durch Dampf und Telegraph die unter-
brochene Verbindung wiederherstellen zu können.
Ein freiwilliger Robinson.

Tann mußte Reinhold lachen bei dem Gedanken
an das verdutzte Gesicht des Tienstmauues. Der
Mensch hatte ihn ja wohl für einen durchgebranntcu
Kassierer gehalten, der sich in einer obskuren Kneipe
verkriecht und dabei erster Klasse fährt.
Verdächtig war das freilich immerhin, aber dabei
höchst ro — — mantisch-
Reinhold fuhr verwirrt in die Höhe und blickte
um sich. Er hatte in den Anlagen auf einer Bank
gesessen und von Hochstaplern geträumt. Das märe
die schönste Gelegenheit für einen „Leichenfledderer"
gewesen, aber die Brieftasche mit den hunderttausend
Marl steckte zum Glück noch eingeknöpft zwischen
Weste und Hemd, und das Morgenrot verkündete,
daß die Zeit zur Abreise gekommen sei.

2ue!ie; llapiiel.
Auf dem Zentralbahnhof war es sehr öde und
einsam.
Der von Süden fällige V-Zug lag den Frank-
furtern wegen seiner frühen Stünde etwas unbequem,
uud außerdem hatte die Hochsaison der Reisezeit
noch nicht begonnen.
In der ersten Klasse des Wartesaales saß nur ein

einziger Herr bei Kaffee und Cognac; er mochte
einige Jahre älter sein als Reinhold, trug einen
schwarzen, spitzgeschnittenen Vollbart und war einfach,
aber mit vornehmer Eleganz gekleidet.
Eine kleine Trübung der Wäsche deutete an, daß
er nicht in Frankfurt das Bett verlassen hatte, son-
dern mit irgend einem Nachtzug augekommen war
und auf den nach Norden fälligen Zug wartete;
auch sein energisch geschnittenes Gesicht zeigte jene
leichte Abspannung, die auf eine durchwachte Nacht
schließen läßt. Reinhold setzte sich in seine Nähe
und betrachtete ihn verstohlen.
Der Fremde hatte nichts weiter bei sich als Ueber-
zieher, Schirm und eine kleine elegante Kuriertasche
von solider Arbeit; sein übriges Gepäck mochte wohl
anfgegeben sein, jedenfalls aber machte er den Ein-
druck eines Mannes, der viel unterwegs ist und sich
dabei mehr auf den Inhalt seiner Börse als auf
alle jene Siebensachen zu verlassen pflegt, die um-
ständliche Reisende mitschleppeu.
Er Ivar vielleicht einer von denen, die zwischen
Suppe und Nachtisch den Entschluß fassen, eine Fahrt
um die Welt zu unternehmen, und die nach dem
Kaffee diesen Vorsatz ansführen.
Reinhold fühlte bei diesem Gedanken eine leise
 
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