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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 37.1902

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Heft 1
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https://doi.org/10.11588/diglit.44085#0027
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M I.

Das Buch für Alle.

19




ins

zu haben, er machte gar keinen

Vie

auch schon wieder ans dem Post-
en: sonniges Lächeln schwebte nm
schien sich zu freuen, daß er Wort

„Ich war früh aufgestanden, weil
Brief an meine Mutter schreiben

krauenuniversitcit in 5t. Petersburg: Vas pbgsikaliscbe baboratoriuin.
tlcicti einer Pkotograpliie von 6läer ünäerson.

„Ich bewundere wirklich Ihre Tapferkeit, so ohne
weiteres aus den Einbrecher loszugehen."
„Ach Gott, das war weiter keine Heldenthat, das
geschah wohl nur in der ersten Aufregung, ohne jede

Vie krauenuniversität in 5t. Petersburg: 8tu<isntinnen beim krübstiick.
Hack einer Photographie von ülcler Knöerson.

bitte, bitte, noch einer: Akt! Es ist
zu schön! Wer weiß, wann ich
wieder einmal ins Theater gehen
kann. Es ist ja auch noch so früh,
einen Akt werden Sie wohl noch
nut anhörci: können."
Ein dankbarer Händedruck be-
lohnte ihn für die Erfüllung ihrer
Bitte.
Seine Geduld wurde aber auf
ciue harte Probe gestellt. Der zweite
Akt zog sich lauge hiu und schier:
gar kein Ende nehmen zu wollen.
Die glutvolle Musik Bizcts hatte
auch die nüchternen Amerikaner-
erwärmt und sie begannen ihre
Kunstbegeisterung irr der exaltier-
tester: Weise zr: äußern. Jeder:
Augenblick brach ein neuer Bei-
fallssturm los. Mit Häudcklatschcu,
Schreien, Trampeln wurde jedes
Lied, zwei-, dreimal da capo ver-
langt. Hatten sie doch ihr Billet
teuer genug bezahlt und wollten
jetzt auch etwas dafür haben,
mit Schrecken, daß die Uhr schon ans
mahnte zum Aufbruch. Luise flüsterte

Da kam sie
geb and e heraus,
ihre Lippen, sie ,
gehakter: und auf sie gewartet hatte.
„Sehen Sie nur all die Menschen, die dort
Theater strömen!" sagte er.
„Ach ja," seufzte sie, „die Glückliche::!"
„Sie gehen wohl gerne ins Theater?"
„Für nrcin Leben gern! Es ist von jeher mein
liebstes Vergnügen gewesen. Hier drüben komme ich
nur leider gar nicht dazu. Hier sind die Preise so
unerschwinglich hoch, daß ich es nicht über mich
gewinne:: kann, so viel Geld für mein Amüsement
auszngeben. Auch würde ich immer nur einen oder
höchstens zwei Akte sehe:: können. Fran Harrison
erlaubt nur nicht, länger als bis höchstens neun Uhr
anszublciben."
„Hätten Sie Lust, heute abeud mit mir zu-
sammen einen Akt von „Carmen" zu hören?"
„Riesige natürlich! „Carmen" ist eine meiner Lieb-
lingsopern."
Er holte die beiden Billette ans seiner Brust-
tasche: „Sehen Sie hier! Zwei Billette, bester Platz,
Parkett, erste Reihe, gleich hinter dem Orchester.
Was geben Sie nur, wenn ich Ihnen eines schenke?"
„Ach gehen Sie doch!" sagte sie über und über-
errötend und drehte ihm einen Augenblick den Rücken.
„Was kann Ihnen denn ein armes Mädchen geben?"
„Ich bin nicht unbescheiden. Erzählen Sie mir
Ihr Abenteuer von heute morgen, sagen Sic mir,
was in dem Kästchen war, und das Bittet gehört
Ihnen."
„Sic sind ein merkwürdiger Mensch! Weshalb
wollen Sie bloß das alles wissen?"
„Ja," sagte er achselzuckend. „Ich bin nun mal
so. In der Reihe meiner Fehler- und Laster steht
in erster Linie die Neugierde. Wenn ich einmal von
einen: Geheimnis etwas erfahre, hab ich keine Ruhe,
bis der Schleier ganz gelüstet ist. Doch, es wird
Zeit, die Ouvertüre kann jeden Augenblick beginnen.
Also entschließen Sie sich schnell!"
Einen Augenblick noch kämpfte sie mit sich selbst,
dann trug die Lust, wieder einmal gute Musik zu
hören, den Sieg davon. „Gut," sagte sie, „mache::
wir also das Geschäft. In der ersten Zwischen-
pause — nein, da sind zu viele Menschen dabei —
ans dem Heimwege erzähle ich
Ihnen alles. So lange werden
Sie Ihre Neugierde wohl zügeln
können."
Er reichte ihr das Billet und
einträchtig stiegen sie miteinander
die Marmortreppen des Opern-
hauses hinauf.
Es wurde recht brav gesungen;
auch das Orchester war seiner Auf-
gabe durchaus gewachsen. Die feu-
rigen Melodien verfehlten ihre
Wirkung ans das leichtentzünd-
liche Gemüt der Rheinländerin
nicht. Sie packten sie nut unwi-
derstehlicher Macht und weckten
einen Sturm von Gefühlen in
ihrer Brust. Ein Rausch kau:
über sie, eine Sehnsucht nach Liebe
erwachte in ihrem Herzen, ein un-
endliches Verlangen nach Glück.
Sie hätte weinen mögen und hätte
doch an: liebsten aufgejnbelt vor¬
unnennbarer Freude. Ihre Wangen glühten und
ihre Augen leuchteten.
Als der Vorhang sich zum erstenmal senkte und
Herbert sich schon zum Gehen anschickte, bat sie: „Ach

lleussere klnsickt 6er krciuenuniversiüit in 5t. Petersburg.
Nack emsr PUotograpkis van NUsr Nndarsan.

Herbert sah
Nenn ging und , , , _ , , ,_
freilich: „Was für ein Jammer, daß ich nicht bis
zum Schluß bleiben kann!" aber sie weigerte sich
keinen Moment mehr, mitzngehen.
Während des nächsten Beifallssturmes, der wahr-
haft beängstigende Dimensionen annahm und ein
unauffälliges Hinausgehen ermöglichte, verließen sie
beide das Haus.
Als sie draußen waren, nahm Luise willig Her-
berts Arm und begann ohne weitere "Aufforderung
ihre Erzählung:
ich einen langen
wollte. Gegen
sechs Uhr hörte
ich einen lauten
Schrei und gleich
darauf ein gellen¬
des Hilferufen
aus den: Schlaf¬
zimmer der Frau
Harrison. Ohne
Besinnen stürzte
ich dahin, und
als ich einen
fremden Men¬
schen im Zimmer¬
stehen sah, er¬
griff ich den ersten
besten Gegen¬
stand von der
Toilette und
schlug damit auf
ihn los. Mein
plötzliches Er¬
scheinenschi enihn
furchtbar erschreckt zu haben, er machte gar keinen
Versuch, sich zur Wehr zu setzen, sondern raffte nur
mit schnellem Griff das bewußte kleine Kästchen an
sich und sprang dann zum Fenster hinaus. Das
Schlafzimmer liegt im Parterre. Der alte Gärtner,
der einzige Frühaufsteher im Hanse, der schon mit
seinen Blumen sich zu schaffen machte, sah zwar den
Dieb laufen, ehe er aber noch wußte, um was es sich
eigentlich handelte, war der Flüchtling schon mit seiner
Beute über alle Berge. Das ist die ganze Geschichte."

Ueberlegung. Wenn der Dieb nicht so feige gewesen
wäre, sondern sich gewehrt hätte, würde es mir ver-
mutlich schlecht genug bekommen sein."
„Sie hatten aber doch eine Waffe?"
„Ich, eine Waffe? Nein!"
„Sie erzählten doch, daß Sie eine Waffe von der
Toilette genommen und damit auf den Dieb los-
geschlagen hätten."
„"Ach nein, das war keine Waffe!"
„Was war cs denn?"
„Nein, wie Sie doch alles wissen wollen! Aber
das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen."
„Bitte, bitte, sagen Sie es mir! Sie haben es
nur doch versprochen!"
Zärtlich drückte er ihren Arn: an sich. Sie
schauerte zusammen, errötete ein wenig und sagte
stockend: „Na, wenn Sie es denn durchaus wissen
wollen. Es war der falsche Zopf der Fran
Harrison, der ans der Toilette lag."
Herbert lachte laut aus und fragte: „Sie trägt
also falsche Haare?"
„Ja, aber nur die allerteuerstcn ans Paris. Der
Zopf hat über hundert Dollars gekostet."
„Und was war denn in den: Kästchen?"
„Erraten Sic es noch nicht?"
„Nein."
„In den: Kästchen war nichts als Fran Harri-
sons - künstliches Gebiß."
Herbert lachte wiederum herzlich. „Der arme
Dieb! Jetzt verstehe ich auch, weshalb Herr Harri-
son nicht wollte, daß über den Einbruch gesprochen
wurde."
„Für Frau Harrison ist der Verlust immerhin
ärgerlich genug. Morgen wollte ihr Mann seinen
Wühlern ein großes Fest geben, das wird nun wohl
abbestellt werden müssen, da seine Frau nicht daran
teilnehmen kann; so schnell ist ein neues Gebiß nicht
zu beschaffen."

Mittlerweile waren sie an der Villa Harrison
angelangt. Herbert schien auf einmal große Eile zu
habe::, denn er verabschiedete sich in auffälliger Hast
von seiner Begleiterin, ohne auf ihre Dankesworte
zu hören.
„Was für ein komischer Mensch er ist!" dachte
sie. „Kaum die Hand hat er mir gereicht, und hat
nicht einmal aus Wiedersehen gesagt!"
Sie ärgerte sich beinahe, daß er keinen besseren
Lohn für seine Ritterlichkeit gefordert hatte, als die
Erzählung von dem Einbruch.
" Herbert eilte, so schnell ihn
seine Füße tragen wollten, in die
Redaktion, erstattete dem höch-
lichst erfreuten Chefredakteur Be-
sWW richt, schrieb ein Dutzend Zeilen
über die Opernvorstellung und
* ' stürmte dann in das Hotel „Zur
Stadt Baltimore", in welchen: die
Hochzeit gefeiert werden sollte.
Doch die Festsäle des Hotels
waren geschlossen, das ganze Hans
ruhte im tiefen Dunkel, der Nacht-
portier, der inzwischen den Dienst
angetreten hatte, wußte von keiner
Hochzeitsgesellschaft.
Nachdenklich schlug Herbert den
Weg nach seiner Wohnung ein.
Auf dem Schreibtisch brannte eine
Lampe, und ihr gelber Schein fiel
auf einen Brief, der folgender-
maßen lautete:
„Lieber Herbert! Bis acht Uhr, also noch eine
Stunde länger, als wir abgemacht hatten, habe ich
auf Dich gewartet. Mehr kann doch kein Mensch von
mir verlangen. Als Du aber dann noch nicht kamst.
 
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