38
Das Bilch für Alle.
M 2.
Oa5 5ckweigen 6er Wände.
Kriminalroman von ?rieürick üacobsen.
(?ort5et2ung.)
viC ^xenstrcisse am Visriocilüslätlsr Zes.
(Zielie 6ci5 Lü6 auf Zeile 31.)
c^ür die Mehrzahl der Vergnüglliigsreisendeii, deren
Stroin alljährlich der majestätischen Alpenwelt zu-
flutet, gilt als die Krone aller Schweizer Naturschönheilen
der Vierwaldstätter See im Kranze seiner bald anmutig
lieblichen, bald überwältigend großartigen, wildroman-
tischen Ufer. Von eigentümlich zerrissener Gestalt, setzt
sich dieser einzigartige Alpcnsee eigentlich aus sechs ver-
schiedenen Becken, dem Urner, Gersauer, Weggiser,
Luzerner, Alpnacher und Küßnachter See zusammen.
Und die Gestade, welche die einzelnen, zum Teil nur
durch einen sehr schmalen Hals miteinander verbundenen
Becken umrahmen, sind von einer Mannigfaltigkeit der
Gestaltung, die eine Dampfschiffahrt über die ganze
Länge des Sees in der That zu einem erlesenen und
köstlichen Genuß werden läßt. Am imposantesten und
mächtigsten offenbart sich die erhabene Alpennatur wohl
in der Uferformation des Urner Sees, den für uns
Deutsche ein eigener poetischer Zauber auch noch um
deswillen umgiebt, weil er mit seiner nächsten Umgebung
den Schauplatz bildet für die wichtigsten Ereignisse der
durch unseren größten Dramatiker unsterblich gewordenen
Tellssage. Ueber den Urner See, dessen schroff abfallende,
himmelhohe Felsenwände nur wenige Landungsplätze
offen lassen, und den die Fischer noch heute um seiner
oft urplötzlich losbrechenden Stürme willen fürchten,
fuhr der gefangene Teil im Nachen des Landvogts. Und
am Fuße des Axenberges zeigt man dem Reisenden die
Platte, auf die der unerschrockene Schütze sich mit ver-
wegenem Sprunge aus der Gewalt seines Peinigers ge-
rettet. Hier erhebt sich die im Jahre 1883 restaurierte
Tellskapelle mit den Stückelbcrgschen Fresken aus der
Tellssage. Hoch droben über dem Seespiegel aber, an
steilen Wänden und Abhängen dahin, windet sich eine
Touristenstraße, die zur Zeit ihrer Erbauung, vor nun-
mehr beinahe vier Jahrzehnten, wohl mit Recht als ein
Wunderwerk menschlicher Kühnheit und Geschicklichkeit
angestaunt werden konnte. Heute, nach der Vollendung
der Gotthardbahn, hat die weltberühmte Axenstraße
(siehe das Bild auf S. 31) für den Verkehr nicht
mehr die einstige Bedeutung; aber um der unvergleich-
lich schönen Ausblicke willen, die sich von ihren Galerien
und durch die Oeffnungen ihrer Tunnel auf den
schimmernden See und seine Umgebung darbieten, sollte
es kein Besucher des Vierwaldstätter Sees versäumen, die
Wanderung von Brunnen nach Flüelen auf der zum
größten Teil in den Fels gesprengten Axenstraße zu
machen.
Cins Volksbelustigung in Cliinci.
Eielie da; bild aul Seite 37.)
XIls leidenschaftliche Freunde öffentlicher Lustbarkeiten
" pflegen die Chinesen ihre Feste sehr ausgiebig zu
feiern und sie, wenn irgend möglich, über Tage und
Wochen auszudehnen. Den Truppen der vereinigten
Großmächte, die ein so unerfreulicher Anlaß jüngst in
das himmlische Reich geführt hatte, war mehr als ein-
mal Gelegenheit gegeben, sich am Anblick der eigen-
artigen Veranstaltungen zu ergötzen, durch welche sich
die schlitzäugigen Zopfträger bei solchen Gelegenheiten zu
unterhalten lieben. Namentlich aus Anlaß des Tet-
Festes, das die Stelle unserer Neujahrsfeier vertritt, gab
es eine Menge öffentlicher Vergnügungen, die den euro-
päischen und amerikanischen Zuschauern interessante Ein-
blicke in das Wesen und die Neigungen des chinesischen
Volkes gewährten. Wird doch der Jahreswechsel ganz
besonders gründlich und ausdauernd gefeiert, so gründ-
lich, daß beinahe dröi Wochen lang nicht nur Handel
und Wandel vollständig stocken, sondern auch die Rechts-
pflege sich eine zwanzigtägige Unterbrechung gefallen
lassen muß. Da giebt es in schier endloser Folge die
beliebten pantomimischen Drachenkämpfe, Ballspiele,
Feuerwerke und was sonst immer an öffentlichen Be-
lustigungen das Herz eines Ostasiaten erfreuen mag.
Der konservative Charakter des chinesischen Volkes, der
einen so vollständigen Stillstand seiner schon in grauer
Vorzeit bis zu ihrer heutigen Stufe entwickelten Kultur
bedingt hat, tritt auch bei dieser Gelegenheit augen-
fällig zu Tage; denn die Volksunterhaltungen und Fest-
bräuche sind heute noch in allen Einzelheiten genau die-
selben wie vor Jahrhunderten, und alles vollzieht sich
streng in den hergebrachten Formen. Eine dieser uralten
Vergnügungen, an der besonders die chinesischen Sol-
daten ihre Freude haben, ist das Wettspringen der
Stelzenläufer, wie es unser nach dem Leben aufgenom-
menes Bild auf S. 37 sehr anschaulich zur Darstellung
bringt. Die Teilnehmer an diesem eigenartigen Wett-
kampf, bei dem es natürlich nicht an humoristischen
Zwischenfällen mangelt, sind so bunt und festlich als
möglich gekleidet. Und das größte Gaudium bereiten
den Zuschauern die in weibliche Gewänder gehüllten
Springer, die auch in ihrem Fächerspiel und in ihren
sonstigen Bewegungen die Eigentümlichkeiten des schönen
Geschlechts mehr oder weniger drastisch nachzuahmen
suchen. Das zu nehmende Hindernis, zuerst nur eine
einzige, ziemlich niedrige Bank, wird durch Aufsetzen
weiterer bankartiger Gestelle beständig erhöht und erhält
zuletzt die Gestalt einer recht ansehnlichen Pyramide,
die auf den hohen Stelzen zu überspringen es einer
nicht geringen Uebung und Geschicklichkeit bedarf.
Drille; Kapitel.
ie Stelle, wo der Eiscnbahnunfall sich zuge-
tragen hatte, war für einen Aufenthalt so
ungünstig wie möglich.
Bis zur nächsten Station waren noch etwa
drei Kilometer, während die vorhergehende noch weiter
entfernt lag; zwischen beiden Endpunkten war keine
menschliche Ansiedelung sichtbar, nur ein kleines
Bahnwärterhäuschen schmiegte sich an den Saum des
Waldes und bildete gewissermaßen eine Verbindung
zwischen diesem und der wieder beginnenden Heide.
Zudem stellte sich heraus, daß kein zweiter Strang
vorhanden war, auf den der beschädigte Wagen ge-
schoben werden konnte, und so blieb nichts anderes
übrig, als das lahme Fahrzeug langsam bis zur
nächsten Station mitzuschlcppen.
Man forderte daher die Reisenden auf, wieder
einzusteigen, allein Gabori weigerte sich entschieden,
seinen Platz wieder einzunehmcn.
„Man kann nicht wissen, was noch alles ge-
schieht," sagte er, „lieber gehe ich zu Fuß nach der
Station und warte dort den nächsten Zug ab; ob
ich heute oder morgen nach Hamburg komme, ist mir
gleichgültiger als meine heile Haut."
Werner befand sich so ziemlich in derselben Lage.
Er wunderte sich allerdings über die große Vor-
sicht seines Reisegenossen, aber er mochte ihn auch
nicht allein gehen lassen, und er erklärte sich daher
bereit, die Fußwanderung mitznmachcn.
„Das hatte ich von Ihnen erwartet," sagte Gabori
zufrieden. „Das Wetter ist wieder schön geworden,
und wenn wir Ihr Köfferchen zwischen uns nehmen,
dann macht sich die Sache ganz einfach. Ein Träger
wird in dieser Einsamkeit freilich nicht zu haben
sein."
Er sah sich um und betrat einen schmalen Fuß-
pfad, der neben den Schienen herlief; Werner folgte
ihm, während der Zug sich langsam in Bewegung
setzte.
Aus dem Schornstein des Bahnwärterhäuschens
stieg ein feiner Rauch auf, der die Nähe menschlicher
Wesen verriet; sonst war es ringsumher totenstill,
die Wolken hatten sich verzogen, und die Sonne
flimmerte wieder auf der Heide.
Nach einigen hundert Schritten kamen sie an eine
dichte Erlengruppe, die eine Mulde ansfüllte uud
sich nahe an den Bahndamm schmiegte; sie hatten sie
schon von weitem gesehen, und der Pfad schien mitten
hindurch zu führen.
Gabori blieb stehen und ließ seinen Gefährten
voransgehen. Er sah, daß Reinhold den kleinen
Handkoffer sehr leicht und bequem trug und bot
daher seine Hilfe nicht weiter an; außerdem schien
das umherliegende Geröll seine Aufmerksamkeit zu
fesselu, denn er bückte sich bisweilen, hob einen Kiesel
ans und warf ihn nach kurzer Musterung wieder
weg.
Zuletzt behielt er einen größeren scharfkantigen
Stein in der Hand und sah mit zusammengezogcncn
Augenbrauen nachdenklich darauf nieder.
Plötzlich machte Reinhold Halt und drehte sich
nm. „Sehen Sie doch, Herr Gabori," sagte er er-
staunt, „so etwas hätte ich in dieser Wildnis nicht
erwartet! Das ist ja höchst seltsam und ungewöhn-
lich !"
Der Angeredete schrak zusammen, ließ den Stein
fallen und blickte sich verwirrt nm. „Wo? was?
Ich war gerade mit einer geologischen Untersuchung
— ach so, das ist allerdings ein kurioser Ge-
schmack!"
Mitten in dem dichten Gebüsch, an dessen Saum
sie nunmehr standen, lag ein kleines einstöckiges Haus.
Man konnte sein Dach erst aus unmittelbarer Nähe
entdecken, denn eine Gruppe von Erlen wuchs dar-
über hinaus und umhüllte es wie mit einem grünen
Schleier; die ehemals weißgetünchten Wände aber
hatten durch den Einfluß der Witterung eine graue
Färbung angenommen und verschwamme« in dem
Gebüsch eines verwilderten Gartens.
Die Formen des Hauses waren zierlich und villen-
artig; von den Fenstern sah man nichts, denn fest-
geschlossene Läden verwehrten jeden Einblick, und
ein regelloses Gewirr von Ephen wucherte darüber
hin.
Im Garten blühte zwischen Disteln und Schwarz-
dorn roter Mohn, und mitten unter diesen flattern-
den Kindern des Sommers saß ein junges Mädchen
auf einer kunstlos zusammengefügten Naturbank.
Reinhold trat näher und lehnte sich ans den
(Hcick'.ciruck verdotsu.)
Gartenzann. „Wer wohnt in dieser Einsamkeit?"
fragte er, und das Mädchen hob verwundert die
blauen Augen zu dem Fremden empor.
„Hier wohnt niemand," entgegnete sic dann ein-
fach und fuhr fort, Mohnblumen zu pflücken.
„Niemand? Sie auch nicht?"
Das junge Ding lachte leise und schüttelte den
Kopf. „Wo denken Sie hin, Herr, da würde ich
mich schön fürchten! Ich bin drüben bei Großvater
im Bahnwärterhaus."
Das schlichte Kind verriet allerdings, daß sie nicht
den höheren Ständen angehörte, und Reinhold
änderte daher den Ton.
„Sie fürchten sich aber doch nicht, hier zu sitzen,"
sagte er scherzend, „sogar mitten im Mohn, der böse
Träume macht."
„Thnt er das wirklich?" fragte sie ängstlich. „Ich
habe mitunter böse Träume. Aber wenn die Sonne
scheint, ist es hier schön; nur bei Nacht sehe ich das
Licht, und dann fürchte ich mich."
Ihre Ausdruckswcise und ihre Stimme hatten
etwas Seltsames und Geheimnisvolles, aber Reinhold
fühlte sich davon angezogen.
Er hatte sonst niemals eine besondere Neigung
für das weibliche Geschlecht gefühlt, sondern im
Gegenteil stets jenes Mißtrauen gegen die Frauen
gehegt, das reiche Leute nur zu leicht im Verkehr
mit Gleichgestellten beschleicht. Diese flüchtige und
gleichgültige Begegnung machte ihm indes Freude,
und er wünschte das Gespräch sortzusetzen.
Er blickte sich nach seinem Gefährten nm und
sah, daß Gabori sich in einiger Entfernung mit einem
granbärtigen Manne unterhielt, der die verwitterte
Uniform eines Streckenwärters trug. Der Alte mußte
unbemerkt herangekommen sein, jedenfalls war er da,
und seine Gesten ließen darauf schließen, daß er dem
anderen die Bedeutung des Hauses erklärte.
Aber so neugierig Reinhold auch war, die blauen
merkwürdigen Angen des jungen Mädchens fesselten
ihn noch mehr, und sein eigener freundlicher Blick
schien eine ähnliche Wirkung ansznüben, denn das
Mädchen stand auf und trat näher an den Zaun heran.
„Ist das Ihr Großvater?" fragte Reinhold.
„Der da mit dem anderen Herrn spricht? Ja,
das ist mein Großvater."
„Wie heißt er?"
„Erdmann."
„Und Sie selbst?"
„Ich bin auf den Namen Elisabeth getauft wor-
den, aber die Leute nennen mich Lili."
Reinhold ließ seine Augen über den Horizont
schweifen und machte ein ungläubiges Gesicht. „Giebt
es dcun überhaupt hier Leute, Fräulein Lili? Ich
denke. Sie leben ganz einsam wie eine Märchen-
prinzessin?"
„Es ist hier sehr stille," bestätigte sie schlicht.
„Das Dorf hinter dem Walde ist weit entfernt und
die vielen Menschen, die täglich in den Zügen vor-
überfahren, kann man kaum erkennen. Es sind ja
anch Fremde, die mich nichts angehen."
„Ich bin anch fremd," sagte Reinhold.
Die Blumen, welche das Mädchen noch immer
in den Händen hielt, flatterten langsam zur Erde
nieder. Eine tiefe Stille schwebte über den beiden,
auch der Wind, welcher vorhin das finstere Gewölk
zusammengewcht hatte, war über die Heide davon-
gezogen, und die Sonne schien warm ans das braune
Erdreich.
Uud in dieser Sekunde hatte Reinhold die Em-
pfindung, daß es hier schön sei.
Der Bahnwärter Erdmann kam mit Gabori näher
heran und lüftete seine Dienstmütze. „Wollen die
Herren sich vielleicht mal das Hans ansehen?"
meinte er diensteifrig. „Sie kommen noch immer
früh genug zur Station, und die Lili kann derweilen
meinen Dienst versehen."
Reinhold fragte, was es mit diesem Hause ans
sich habe, und der Alte warf einen scheuen Blick nach
seiner Enkelin hinüber. Als das junge Mädchen sich
langsam in der Richtung der Bahnwärterwohnung
entfernte, wurde er gesprächiger.
„Es kommen ja selten Leute in diese Gegend,"
sagte er in seiner breiten niederdeutschen Aussprache,
„aber wer hierher kommt, der fragt nach dem Hanse.
Das werden nun schon sechs Jahre, daß es leer-
steht, und es wird wohl noch mal zusammenfallen,
obgleich es noch gar nicht alt ist. Vor zehn Jahren
baute ein Herr aus Hamburg das Ding just an die
Stelle, und er kam jeden Sommer auf ein paar
Das Bilch für Alle.
M 2.
Oa5 5ckweigen 6er Wände.
Kriminalroman von ?rieürick üacobsen.
(?ort5et2ung.)
viC ^xenstrcisse am Visriocilüslätlsr Zes.
(Zielie 6ci5 Lü6 auf Zeile 31.)
c^ür die Mehrzahl der Vergnüglliigsreisendeii, deren
Stroin alljährlich der majestätischen Alpenwelt zu-
flutet, gilt als die Krone aller Schweizer Naturschönheilen
der Vierwaldstätter See im Kranze seiner bald anmutig
lieblichen, bald überwältigend großartigen, wildroman-
tischen Ufer. Von eigentümlich zerrissener Gestalt, setzt
sich dieser einzigartige Alpcnsee eigentlich aus sechs ver-
schiedenen Becken, dem Urner, Gersauer, Weggiser,
Luzerner, Alpnacher und Küßnachter See zusammen.
Und die Gestade, welche die einzelnen, zum Teil nur
durch einen sehr schmalen Hals miteinander verbundenen
Becken umrahmen, sind von einer Mannigfaltigkeit der
Gestaltung, die eine Dampfschiffahrt über die ganze
Länge des Sees in der That zu einem erlesenen und
köstlichen Genuß werden läßt. Am imposantesten und
mächtigsten offenbart sich die erhabene Alpennatur wohl
in der Uferformation des Urner Sees, den für uns
Deutsche ein eigener poetischer Zauber auch noch um
deswillen umgiebt, weil er mit seiner nächsten Umgebung
den Schauplatz bildet für die wichtigsten Ereignisse der
durch unseren größten Dramatiker unsterblich gewordenen
Tellssage. Ueber den Urner See, dessen schroff abfallende,
himmelhohe Felsenwände nur wenige Landungsplätze
offen lassen, und den die Fischer noch heute um seiner
oft urplötzlich losbrechenden Stürme willen fürchten,
fuhr der gefangene Teil im Nachen des Landvogts. Und
am Fuße des Axenberges zeigt man dem Reisenden die
Platte, auf die der unerschrockene Schütze sich mit ver-
wegenem Sprunge aus der Gewalt seines Peinigers ge-
rettet. Hier erhebt sich die im Jahre 1883 restaurierte
Tellskapelle mit den Stückelbcrgschen Fresken aus der
Tellssage. Hoch droben über dem Seespiegel aber, an
steilen Wänden und Abhängen dahin, windet sich eine
Touristenstraße, die zur Zeit ihrer Erbauung, vor nun-
mehr beinahe vier Jahrzehnten, wohl mit Recht als ein
Wunderwerk menschlicher Kühnheit und Geschicklichkeit
angestaunt werden konnte. Heute, nach der Vollendung
der Gotthardbahn, hat die weltberühmte Axenstraße
(siehe das Bild auf S. 31) für den Verkehr nicht
mehr die einstige Bedeutung; aber um der unvergleich-
lich schönen Ausblicke willen, die sich von ihren Galerien
und durch die Oeffnungen ihrer Tunnel auf den
schimmernden See und seine Umgebung darbieten, sollte
es kein Besucher des Vierwaldstätter Sees versäumen, die
Wanderung von Brunnen nach Flüelen auf der zum
größten Teil in den Fels gesprengten Axenstraße zu
machen.
Cins Volksbelustigung in Cliinci.
Eielie da; bild aul Seite 37.)
XIls leidenschaftliche Freunde öffentlicher Lustbarkeiten
" pflegen die Chinesen ihre Feste sehr ausgiebig zu
feiern und sie, wenn irgend möglich, über Tage und
Wochen auszudehnen. Den Truppen der vereinigten
Großmächte, die ein so unerfreulicher Anlaß jüngst in
das himmlische Reich geführt hatte, war mehr als ein-
mal Gelegenheit gegeben, sich am Anblick der eigen-
artigen Veranstaltungen zu ergötzen, durch welche sich
die schlitzäugigen Zopfträger bei solchen Gelegenheiten zu
unterhalten lieben. Namentlich aus Anlaß des Tet-
Festes, das die Stelle unserer Neujahrsfeier vertritt, gab
es eine Menge öffentlicher Vergnügungen, die den euro-
päischen und amerikanischen Zuschauern interessante Ein-
blicke in das Wesen und die Neigungen des chinesischen
Volkes gewährten. Wird doch der Jahreswechsel ganz
besonders gründlich und ausdauernd gefeiert, so gründ-
lich, daß beinahe dröi Wochen lang nicht nur Handel
und Wandel vollständig stocken, sondern auch die Rechts-
pflege sich eine zwanzigtägige Unterbrechung gefallen
lassen muß. Da giebt es in schier endloser Folge die
beliebten pantomimischen Drachenkämpfe, Ballspiele,
Feuerwerke und was sonst immer an öffentlichen Be-
lustigungen das Herz eines Ostasiaten erfreuen mag.
Der konservative Charakter des chinesischen Volkes, der
einen so vollständigen Stillstand seiner schon in grauer
Vorzeit bis zu ihrer heutigen Stufe entwickelten Kultur
bedingt hat, tritt auch bei dieser Gelegenheit augen-
fällig zu Tage; denn die Volksunterhaltungen und Fest-
bräuche sind heute noch in allen Einzelheiten genau die-
selben wie vor Jahrhunderten, und alles vollzieht sich
streng in den hergebrachten Formen. Eine dieser uralten
Vergnügungen, an der besonders die chinesischen Sol-
daten ihre Freude haben, ist das Wettspringen der
Stelzenläufer, wie es unser nach dem Leben aufgenom-
menes Bild auf S. 37 sehr anschaulich zur Darstellung
bringt. Die Teilnehmer an diesem eigenartigen Wett-
kampf, bei dem es natürlich nicht an humoristischen
Zwischenfällen mangelt, sind so bunt und festlich als
möglich gekleidet. Und das größte Gaudium bereiten
den Zuschauern die in weibliche Gewänder gehüllten
Springer, die auch in ihrem Fächerspiel und in ihren
sonstigen Bewegungen die Eigentümlichkeiten des schönen
Geschlechts mehr oder weniger drastisch nachzuahmen
suchen. Das zu nehmende Hindernis, zuerst nur eine
einzige, ziemlich niedrige Bank, wird durch Aufsetzen
weiterer bankartiger Gestelle beständig erhöht und erhält
zuletzt die Gestalt einer recht ansehnlichen Pyramide,
die auf den hohen Stelzen zu überspringen es einer
nicht geringen Uebung und Geschicklichkeit bedarf.
Drille; Kapitel.
ie Stelle, wo der Eiscnbahnunfall sich zuge-
tragen hatte, war für einen Aufenthalt so
ungünstig wie möglich.
Bis zur nächsten Station waren noch etwa
drei Kilometer, während die vorhergehende noch weiter
entfernt lag; zwischen beiden Endpunkten war keine
menschliche Ansiedelung sichtbar, nur ein kleines
Bahnwärterhäuschen schmiegte sich an den Saum des
Waldes und bildete gewissermaßen eine Verbindung
zwischen diesem und der wieder beginnenden Heide.
Zudem stellte sich heraus, daß kein zweiter Strang
vorhanden war, auf den der beschädigte Wagen ge-
schoben werden konnte, und so blieb nichts anderes
übrig, als das lahme Fahrzeug langsam bis zur
nächsten Station mitzuschlcppen.
Man forderte daher die Reisenden auf, wieder
einzusteigen, allein Gabori weigerte sich entschieden,
seinen Platz wieder einzunehmcn.
„Man kann nicht wissen, was noch alles ge-
schieht," sagte er, „lieber gehe ich zu Fuß nach der
Station und warte dort den nächsten Zug ab; ob
ich heute oder morgen nach Hamburg komme, ist mir
gleichgültiger als meine heile Haut."
Werner befand sich so ziemlich in derselben Lage.
Er wunderte sich allerdings über die große Vor-
sicht seines Reisegenossen, aber er mochte ihn auch
nicht allein gehen lassen, und er erklärte sich daher
bereit, die Fußwanderung mitznmachcn.
„Das hatte ich von Ihnen erwartet," sagte Gabori
zufrieden. „Das Wetter ist wieder schön geworden,
und wenn wir Ihr Köfferchen zwischen uns nehmen,
dann macht sich die Sache ganz einfach. Ein Träger
wird in dieser Einsamkeit freilich nicht zu haben
sein."
Er sah sich um und betrat einen schmalen Fuß-
pfad, der neben den Schienen herlief; Werner folgte
ihm, während der Zug sich langsam in Bewegung
setzte.
Aus dem Schornstein des Bahnwärterhäuschens
stieg ein feiner Rauch auf, der die Nähe menschlicher
Wesen verriet; sonst war es ringsumher totenstill,
die Wolken hatten sich verzogen, und die Sonne
flimmerte wieder auf der Heide.
Nach einigen hundert Schritten kamen sie an eine
dichte Erlengruppe, die eine Mulde ansfüllte uud
sich nahe an den Bahndamm schmiegte; sie hatten sie
schon von weitem gesehen, und der Pfad schien mitten
hindurch zu führen.
Gabori blieb stehen und ließ seinen Gefährten
voransgehen. Er sah, daß Reinhold den kleinen
Handkoffer sehr leicht und bequem trug und bot
daher seine Hilfe nicht weiter an; außerdem schien
das umherliegende Geröll seine Aufmerksamkeit zu
fesselu, denn er bückte sich bisweilen, hob einen Kiesel
ans und warf ihn nach kurzer Musterung wieder
weg.
Zuletzt behielt er einen größeren scharfkantigen
Stein in der Hand und sah mit zusammengezogcncn
Augenbrauen nachdenklich darauf nieder.
Plötzlich machte Reinhold Halt und drehte sich
nm. „Sehen Sie doch, Herr Gabori," sagte er er-
staunt, „so etwas hätte ich in dieser Wildnis nicht
erwartet! Das ist ja höchst seltsam und ungewöhn-
lich !"
Der Angeredete schrak zusammen, ließ den Stein
fallen und blickte sich verwirrt nm. „Wo? was?
Ich war gerade mit einer geologischen Untersuchung
— ach so, das ist allerdings ein kurioser Ge-
schmack!"
Mitten in dem dichten Gebüsch, an dessen Saum
sie nunmehr standen, lag ein kleines einstöckiges Haus.
Man konnte sein Dach erst aus unmittelbarer Nähe
entdecken, denn eine Gruppe von Erlen wuchs dar-
über hinaus und umhüllte es wie mit einem grünen
Schleier; die ehemals weißgetünchten Wände aber
hatten durch den Einfluß der Witterung eine graue
Färbung angenommen und verschwamme« in dem
Gebüsch eines verwilderten Gartens.
Die Formen des Hauses waren zierlich und villen-
artig; von den Fenstern sah man nichts, denn fest-
geschlossene Läden verwehrten jeden Einblick, und
ein regelloses Gewirr von Ephen wucherte darüber
hin.
Im Garten blühte zwischen Disteln und Schwarz-
dorn roter Mohn, und mitten unter diesen flattern-
den Kindern des Sommers saß ein junges Mädchen
auf einer kunstlos zusammengefügten Naturbank.
Reinhold trat näher und lehnte sich ans den
(Hcick'.ciruck verdotsu.)
Gartenzann. „Wer wohnt in dieser Einsamkeit?"
fragte er, und das Mädchen hob verwundert die
blauen Augen zu dem Fremden empor.
„Hier wohnt niemand," entgegnete sic dann ein-
fach und fuhr fort, Mohnblumen zu pflücken.
„Niemand? Sie auch nicht?"
Das junge Ding lachte leise und schüttelte den
Kopf. „Wo denken Sie hin, Herr, da würde ich
mich schön fürchten! Ich bin drüben bei Großvater
im Bahnwärterhaus."
Das schlichte Kind verriet allerdings, daß sie nicht
den höheren Ständen angehörte, und Reinhold
änderte daher den Ton.
„Sie fürchten sich aber doch nicht, hier zu sitzen,"
sagte er scherzend, „sogar mitten im Mohn, der böse
Träume macht."
„Thnt er das wirklich?" fragte sie ängstlich. „Ich
habe mitunter böse Träume. Aber wenn die Sonne
scheint, ist es hier schön; nur bei Nacht sehe ich das
Licht, und dann fürchte ich mich."
Ihre Ausdruckswcise und ihre Stimme hatten
etwas Seltsames und Geheimnisvolles, aber Reinhold
fühlte sich davon angezogen.
Er hatte sonst niemals eine besondere Neigung
für das weibliche Geschlecht gefühlt, sondern im
Gegenteil stets jenes Mißtrauen gegen die Frauen
gehegt, das reiche Leute nur zu leicht im Verkehr
mit Gleichgestellten beschleicht. Diese flüchtige und
gleichgültige Begegnung machte ihm indes Freude,
und er wünschte das Gespräch sortzusetzen.
Er blickte sich nach seinem Gefährten nm und
sah, daß Gabori sich in einiger Entfernung mit einem
granbärtigen Manne unterhielt, der die verwitterte
Uniform eines Streckenwärters trug. Der Alte mußte
unbemerkt herangekommen sein, jedenfalls war er da,
und seine Gesten ließen darauf schließen, daß er dem
anderen die Bedeutung des Hauses erklärte.
Aber so neugierig Reinhold auch war, die blauen
merkwürdigen Angen des jungen Mädchens fesselten
ihn noch mehr, und sein eigener freundlicher Blick
schien eine ähnliche Wirkung ansznüben, denn das
Mädchen stand auf und trat näher an den Zaun heran.
„Ist das Ihr Großvater?" fragte Reinhold.
„Der da mit dem anderen Herrn spricht? Ja,
das ist mein Großvater."
„Wie heißt er?"
„Erdmann."
„Und Sie selbst?"
„Ich bin auf den Namen Elisabeth getauft wor-
den, aber die Leute nennen mich Lili."
Reinhold ließ seine Augen über den Horizont
schweifen und machte ein ungläubiges Gesicht. „Giebt
es dcun überhaupt hier Leute, Fräulein Lili? Ich
denke. Sie leben ganz einsam wie eine Märchen-
prinzessin?"
„Es ist hier sehr stille," bestätigte sie schlicht.
„Das Dorf hinter dem Walde ist weit entfernt und
die vielen Menschen, die täglich in den Zügen vor-
überfahren, kann man kaum erkennen. Es sind ja
anch Fremde, die mich nichts angehen."
„Ich bin anch fremd," sagte Reinhold.
Die Blumen, welche das Mädchen noch immer
in den Händen hielt, flatterten langsam zur Erde
nieder. Eine tiefe Stille schwebte über den beiden,
auch der Wind, welcher vorhin das finstere Gewölk
zusammengewcht hatte, war über die Heide davon-
gezogen, und die Sonne schien warm ans das braune
Erdreich.
Uud in dieser Sekunde hatte Reinhold die Em-
pfindung, daß es hier schön sei.
Der Bahnwärter Erdmann kam mit Gabori näher
heran und lüftete seine Dienstmütze. „Wollen die
Herren sich vielleicht mal das Hans ansehen?"
meinte er diensteifrig. „Sie kommen noch immer
früh genug zur Station, und die Lili kann derweilen
meinen Dienst versehen."
Reinhold fragte, was es mit diesem Hause ans
sich habe, und der Alte warf einen scheuen Blick nach
seiner Enkelin hinüber. Als das junge Mädchen sich
langsam in der Richtung der Bahnwärterwohnung
entfernte, wurde er gesprächiger.
„Es kommen ja selten Leute in diese Gegend,"
sagte er in seiner breiten niederdeutschen Aussprache,
„aber wer hierher kommt, der fragt nach dem Hanse.
Das werden nun schon sechs Jahre, daß es leer-
steht, und es wird wohl noch mal zusammenfallen,
obgleich es noch gar nicht alt ist. Vor zehn Jahren
baute ein Herr aus Hamburg das Ding just an die
Stelle, und er kam jeden Sommer auf ein paar