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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 37.1902

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Heft 3
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Das Buch für Alle.

Sonne mit ungebrochenem Licht umhüllte, daß es
schien, als flamme das mächtige Gebäude in Gold-
gluten auf, sah Schloß Holdenberg in das ebene
Gelände herab.
„O!" flüsterte Marie Antonie und dachte an die
Fürstin, welche hier ihren Einzug halten würde.
„Sieh dir's genau au!" rief Frau v. Lüttmig mit
familicnstolzer Wichtigkeit. „Lauter rotglasierte Ziegel-
steine. Und jeden Stein bezahlte der alte Graf mit
fünfundsiebzig Pfennigen. Ein schönes Geld! Und
die Pferdeställe! Kleine Bürgersleute würden darin
wie in einem Palast wohnen. — Ach, die Gewächs-
häuser! Betty könnte sich, wenn sie wollte, jeden Tag
in Blumen baden. Jetzt die Einfahrt! Fürstlich!"
Obzwar die sinkende Sonne noch Streiflichter-
genüg durch die bunten Glasfenster der Halle warf,
erstrahlte dieser Prachtraum bereits im Vollglauz
elektrischer Beleuchtung.
Ein Treppengang von solch architektonischer Schön-
heit, wie ihn Marie Antonie selbst im großherzoglichen
Schlosse nicht gesehen, führte, der Eintrittsthür gegen-
über, zu den oberen Gemächern empor. Die Stufen
herab eilte Graf Max, seine ersten Gäste in Empfang
zu nehmen.
„Die Damen haben meine besonderen Wünsche
erraten," sagte er mit äußerster Verbindlichkeit, „in-
dem sie mir einige Minuten des Alleinseins mit
ihnen ermöglichten. Die Neugier der Komtesse zu
befriedigen liegt mir ebenso am Herzen als die Bitte
an Sie, Frau Baronin, mir heute die fehlende Haus-
frau zu ersetzen."
„O, lieber Graf —"
„Ich darf also hoffen?"
Durchaus vergeßlich Und gleichgültig gegen die
von ihrer Tochter als selbstverständlich ausgesprochene
Erwartung, nach so langer Entfremdung einmal wie-
der die ihr gebührende Stellung in Holdenberg ein-
nehmen zu können, sagte Frau v. Lüttmig auf die
Aufforderung des Grafen mit Wonne zu. Darauf
hatte Maximilian Trachberg gerechnet, ebenso wie auf
ihre unantastbare Würde als Mutter, als er zwischen
sich und Betty diese erste Scheidewand schuf, zugleich
für sie die erste Enttäuschung, welche sie genötigt
war, schweigend über sich ergehen zu lassen.
Beiden Damen den Arm reichend, führte er sie
zu den oberen, der Geselligkeit dienenden Räumen
empor.
Amadeus Debellaires Tochter schritt andächtig
verzagt neben dem Grafen über eine blumen-
geschmückte Galerie, welche rings um die Halle an-
gelegt war. Dabei kam ihr dieser wunderliche Ein-
fall: Wenn jetzt alle Pracht und Herrlichkeit plötzlich
um sie her verschwände, ob sie an Trachbergs Arm
eine Leere um sich spüren würde?
„Wir haben zur Not noch zehn Minuten Zeit,
Komtesse," scherzte der Graf, seine Uhr ziehend.
„Wenn wir ein rasches Tempo, eine Art Geschwind-
marsch anschlagen, könnte ich vor Tische noch Ihre
Neugier befriedigen und — bestrafen. Wollen Sie?"
„Ob sie will!" rief die Baronin, grüßend in den
Empfangssaal rauschend.
„Also bitte — links!"
Er führte sie schnell durch eine Reihe Prunk-
gemächer, belustigt von dem kindlichen Entzücken,
das aus ihren Worten wie ans ihren Mienen sprach.
„Also das alles finden Sie so schön?! Zu schön
vermutlich für einen Einsiedler."
„Sie werden ja bald kein Einsiedler mehr sein,
Herr Graf."
Es flog ihr sehr unbedacht über die Lippen, und
sie errötete vor seinem mißbilligenden Blick.
„Nicht?" fragte er spöttisch. „Haben Sie —
oder hat man vielleicht schon für mich gewählt?"
„Tante Tina —" flüsterte sie tödlich verlegen.
Er lachte. „Ja so! Tante Tina!" Ihre Be-
fangenheit that ihm leid, und er nahm den ge-
wohnten Neckton wieder auf. „Wie meinen Sie denn,
daß meine Zukünftige aussehen müßte?"
„Ach, ich weiß ja gar nichts davon!" sagte sic
halb ärgerlich, halb scheu.
„Aber ich weiß," fuhr er leiser fort, „wie der zu-
künftige Gemahl der Vikomtesse Debellaire aussehen
wiro."
Sie fuhr wie elektrisiert auf und schaute ihn
groß an. „Ja? Wie denn?"
„Wie denn?" Und ein wärmeres Gefühl für dieses
holdselige Kind, dem Spielen und Leben noch gleich-
bedeutende Dinge waren, erfaßte ihn. „Nun! So
ungefähr wie der Herr v. Kirchstein —"
„Kirchstein? Ter Rittmeister?" rief sie lebhaft.
„O, bewahre!" Ihre Stimme sank zu einem ver-
traulichen Flüstern herab, als sie fortfnhr: „Nie!
Papa würde gar nicht erlauben, daß ich eine ein-
fache Fran v. Kirchstein würde. Papa ist nämlich
sehr stolz auf seinen Namen nnd auf unsere Familie.
Seine Großmutter war die intimste Freundin der
Königin Marie Antoinette, und sein Großvater erster
Hansbeamter und Schatzmeister des Königs. Seine

Hrst 3.

! Tante ist noch von der Königin im Jahre 1792 über
die Taufe gehalten worden. Ich glanbe nicht, daß
Papa Herrn v. Kirchstein — nein, ich glaub's nicht.
Tante Tina denkt sich das so."
„Ihre Voreltern sind Emigranten gewesen?"
- „Ja. Der Vikomte war damals schon kränklich
und alt und floh im Jahre 1793 mit seiner schönen
jungen Frau, uur von einem Kammerdiener begleitet,
in einer entsetzlichen Stnrmnacht über die Grenze.
Wie viele andere flüchtige Familien wollten sie sich
zuerst in Altbreisach niederlassen und auf das Ende
der Revolution warten, aber es war nur gut, daß sie's
nicht gethan haben, denn gerade dieser Flüchtlinge
halber ließ der abscheuliche Robespierre die Stadt
bis auf den letzten Hauspseiler niederkartätschen."
Sie sagte das alles so rasch und ausdrucksvoll
her, wie Amadeus Debellaire es ihr durch unzählige
Wiederholungen bcigebracht hatte.
Der Graf, bemüht, ein Lächeln zu unterdrücken,
welches nicht aufhören wollte seine Lippen zu um-
zucken, nickte mit scheinbarer Teilnahme. Die Er-
zählung fand er urdrollig, die Erzählerin aber so
allerliebst iu dem Gemisch von Selbstbewußtsein
und harmloser Naivetät, daß er mit wirklichem Be-
dauern diese Unterhaltung abbrach.
„Es ist leider hohe Zeit, daß ich mich meiner
Hausherrnpflicht erinnere. Aber das müssen Sie
mir versprechen," — er hielt ihr die Hand entgegen —
„daß Sie bei nächster Gelegenheit fortsahren, mir
von Ihren Familiengeschichten zn erzählen."
„Sehr gern, Papa kennt auch nichts Schöneres,
als davon zu sprechen!" sagte sie strahlend, ihre
Finger in die seinen legend. „Ich weiß noch so viele
hübsche Einzelheiten aus dem Leben am Hofe der
Königin Marie Antoinette und aus dem Leben unserer
Ahnen."
„Nun, das müssen Sie mir alles verraten," sagte
er scherzend, dabei aber mit vollkommener Eigen-
mächtigkeit den Arm des jungen Mädchens in den
seinen legend, wozu ihn im Grunde nichts als die
Harmlosigkeit der Plaudernden berechtigte.
Zeitig genug kehrten beide in den Saal zurück,
um Betty Trachberg neben ihrem Gatten eintreten
zu sehen.
Seit der letzten bedeutungsvollen Unterredung mit
Graf Maximilian hatte Frohlocken und Jubeln in
Bettys Herzen kein Ende gefunden. Alles, was sich
an Bitterkeit darin anfgehäuft hatte, war von fiebern-
dem Hoffen hinweggeschwemmt. Die natürliche Em-
pfindung ihrer Seele, so lange nur in bizarren Launen
zum Durchbruch kommend, lag jetzt wie Frühsonnen-
schein über ihrem ganzen Sein.
Maximilian liebte sie. Wo blieb da ihre bis-
herige Abneigung gegen ein Wesen wie Marie An-
tonie, die weit außerhalb dieser strahlenden Glücks-
zone ihr anspruchsloses Dasein hinlebte?
Ihre frühere Härte bereuend, hatte Betty Trach-
berg edelmütig die kleine Vikomtesse umarmt uud ihr
das schwesterliche Du angeboten. Dann hatte sic
ihren Schmuckkasten herbeischaffen lassen und nicht
geruht, bis Kette und Armband, Ring und Brosche
nnd sonst noch allerhand Schmuck die Hände des
jubelnden Mädchens füllten. Auch hatte sie der
darob hocherfreuten Baronin eine beträchtliche Summe
Geldes angcboten: „Mache sie schön! HmJ du?
Recht schön. Sie hat ja sonst nichts!"
Nichts! Und sie selbst hatte alles — Maxi-
milians Liebe! —-
Getragen von lohender Erwartungsfreude, in ihrer
äußeren Erscheinung gerade heute von berückender
Schönheit, ließ sie ihre Blicke, Trachberg allein ver-
ständlich, erinnerungsselig über seine Züge gleiten;
fest entschlossen, alle Bande zu sprengen, um ihm
fortan anzugehören.
Aber gerade das, woran diese lächelnden Blicke
ihn gemahnten, steigerte die ablehnenden Selbstvor-
würfe des Grafen in diesem Moment des Wieder-
sehens bis zur Unerträglichkeit.
„Willkommen in Holdenberg!" sagte er, die Hand
der jungen Frau leicht an die Lippen drückend.—
„Wenn du wüßtest, Eduard, welche Ueberredungs-
künste ich habe anwenden müssen, um Betty eine
Zustimmung abzulocken."
„Sie muß in den letzten Tagen einen Gesund-
brunnen entdeckt haben," entgegnete Graf Eduard
frohgelaunt, „der ihr ganzes Nervensystem verwan-
delt hat."
„Ich will nichts mehr hören von Nerven und
Nervosität!" rief oie junge Frau mit einem Anflug
mädchenhafter Verlegenheit, der ihrem Antlitz viel zu
ureigen war, als daß er es hätte noch verschönern
können. „Laß sie schlafen — diese Quälgeister der
Vergangenheit!"
„Vortrefflich !" scherzte Trachberg, ihr seinen Arm
reichend. „Nur ist das Meer der Vergangenheit tückisch
und unzuverlässig wie alle Meere. Man ist nie sicher,
daß es einen Raub nicht wieder herausgiebt, selbst
wenn er noch so tief versenkt wäre."

„Nein," sagte sie mit tiefer Ueberzengung, „davor
bin ich sicher."
Ihren herrlichen Nacken und Hals, die ans dem
Ausschnitt des schwarzen Sammetkleides in alabaster-
weißem Glanze sich erhoben, überlief bei diesen Worten
ein feines Erröten.
„Wer ist sicher? Und wovor?" fragte er im Weiter-
schreiten. „Doch nicht vor sich selber? — Doch hier!
Unsere allergnädigste Wirtin!"
So fest hatte Betty darauf gerechnet, ganz ab-
gesehen von naher Verwandtschaft, daß Maximilian
gleich ihr das zwingende Bedürfnis empfinden müsse,
unauffällig in ihrer Nähe zu weilen, daß sie vor
Ueberraschung kein Wort des Staunens hervorzu-
bringen vermochte. Indessen fand sie sich ohne Arg-
wohn mit dieser Enttäuschung ab. Vielleicht war
es sogar besser so; es war eine gebotene Vorsicht von
seiner Seite. Freundlich begrüßte sie daher ihre Mutter.
„Wie schön du heute bist, Betty!" flüsterte Marie
Antonie mit neidloser Bewunderung. „Mir ist, als
sähe ich dich heute znm erstenmal."
„Närrchen, du siehst mit zu freundlichen Augen!"
Sie lachte und hielt ihren Fächer abwehrend vor das
reizende Gesicht der Vikomtesse.
Die Baronin, einen ungestörten Moment benutzend,
versicherte sich des Ohres ihrer Tochter, sie von dem
neuesten Stand der Dinge in Kenntnis zu setzen.
„Betty, Kirchstein sitzt fest. Ist der Mensch ver-
liebt! — Ich erwarte demnächst seinen Antrag. Meinst
du nicht, oaß ich den Vikomte wie von ungefähr Her-
kommen lassen soll? Mit der Kleinen vernünftig zn
sprechen ist ja rein unmöglich. Also muß der Alte
heran,"
„Möge sie glücklich werden!" sagte die junge Fran
mit aufrichtiger Wärme. Es war, als schössen unter
dem Licht der Liebe, davon sie sich umflossen wähnte,
alle guten Keime ihres Herzens in Halm und Blüte.
„Recht von ganzer Seele glücklich!"
Frau v. Lüttmig schüttelte verwundert den Kopf.
„Werde nnr nicht überschwenglich, Betty! Zuzu-
trauen ist dir alles. Vorläufig kommt's darauf an,
ein hübsches Lärvchen ohne Geld anständig unterzu-
bringen. Und da der Kirchstein völlig in sie ver-
schossen ist —"
„Vergiß nicht, ihr Herz zu fragen!" warnte Betty,
ohne ein flüchtiges Farbenspiel ihrer Wangen unter-
drücken zu können. „Vergiß es ja nicht, Mama! Ein
„Ja" ist schnell gesprochen, aber wenn später ein
dauerndes „Nein" durchs Leben klingt, wenn man
findet, daß die Rechnung nirgends stimmt, weil die
Aufgabe von vornherein falsch gestellt worden war,
so -"
Die Baronin hatte im Verlauf dieser hastig ge-
flüsterten Worte ihre runden Augen so weit geöffnet,
daß sie zuletzt starr dreinschauten.
„Bettychen, du warst ja wohl auch schou früher
zuweilen Gemütsmensch, aber —"
In diesem Moment traten zwei Herren in den
Saal, davon der ältere als langjähriger Rechtsbei-
stand des Grafen den meisten Anwesenden wohl-
bekannt, der jüngere dagegen durchaus fremd war.
Vom Hausherrn zu den Damen geführt, hatte der
junge Mann Mühe, einen Ruf angenehmster Ueber-
raschnng zu unterdrücken, als er Marie Antonie sah.
„Doktor Geisler, des Herrn Justizrats Neffe —"
Die kleine Vikomtesse, mit der Befestigung ihres
Gürtelstraußes beschäftigt, ließ die widerspenstigen
Knospen ohne weiteres zur Erde fallen.
„Wirklich? Jst's wahr?"
„Was ist wahr?" fragte die Baronin mißbilligend,
während Bruno Geisler sich schleunigst bückte, die
rosa Blüten vom Parkett aufznheben. „Was ist denn
wahr, Herzchen?"
Frau v. Lüttmigs Stimme bezeugte ohne Worte,
daß sie auf bürgerliche Namen kein Gewicht legte,
ans bürgerlichen Umgang noch viel weniger.
Aber Marie Antonie empfand viel zu viel Kindes-
liebe und Kindessehnsucht, um nicht mit süßester
Dringlichkeit den jungen Mann zu fragen: „Haben
Sie meinen Papa vielleicht gesehen?"
„Gesehen nnd gesprochen, gnädigste Komtesse, und
zwar auf der Straße, wo er sich plötzlich von einem
leichten Unwohlsein befallen fühlte. Als Vorüber-
gehender hatte ich den Vorzug, ihm meinen Arm und
in seiner Wohnung auch meinen ärztlichen Beistand
anbieten zu können."
Schon lange hielt sie ihm mit erschrecktem und
dankbarem Blick die Hand entgegen, welche er trotz
aller Inbrunst seiner Seele nur flüchtig zu berühren
sich zwang.
„Etwas Schlimmes war's nicht? — Ich danke
Ihnen! Recht herzlich danke ich Ihnen für Ihre
Teilnahme!"
Die Baronin hüstelte. Betty hatte sich mit der
übrigen Gesellschaft entfernt. Nur Maximilian Trach-
berg war noch anwesend und überschaute das Paar
mit interessierten Blicken.
Die Baronin hüstelte abermals und nachdrücklicher.
 
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