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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 37.1902

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Heft 3
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Das Buch für Alle.

Heft 3.


Dort sieht man kein Schiff, kein Boot, dort
empfindet man nichts von den Gefahren des Meeres!
Dort will sie hin, dort soll ihr Kind das Licht der
Welt erblicken. Wenn's ein Knabe ist, soll er anf-
wachsen, ohne daß in ihm der Wunsch erwachen kann,
auf dem Wasser sein Leben zu verbringen, und ist's
ein Mädchen, soll es davor bewahrt bleiben, eines
Seefahrers Weib zu werden. Dieser Gedanke be-
herrscht Fran Maren so völlig, daß sie alle Schwierig-
keiten, die sich ihrem Vorhaben in den Weg stellen,
überwindet.
An einem trüben, nebligen Herbsttag nimmt sie
Abschied von der Heimat, steht sie ein letztesmal am
Strand und
blickt hinaus auf
das große Grab
ihrer Lieben.

zerzaust, die Hellen grauen Augen, die Augen des
Vaters, leuchtend in freudiger Aufregung, in den
dicken Fäusten zwei kleine, aus Rinde geschnitzte
Schiffchen, und als er ruft: „O Mutter, wir haben
gespielt, so schön gespielt! Fritz Weber hat uns ge-
zeigt, wie man Schiffe macht aus Papier und aus
Baumrinde und mit ordentlichen Segeln — sieh nur —
und auf 'm Bach haben wir sie schwimmen lassen,
und welche sind schon ganz weit und die schwimmen
bis ins Meer, hat Fritz Weber gesagt — o, es war
so schön!"
Da hat Maren ihn jäh unterbrochen; mit einem
heftigen Schlag auf die Hand entreißt sie ihm die
Schiffchen und
auffahrend ruft
sie: „Du böses
Kind, wie siehst
du aus? Ganz
naß und
schmutzig. Zur
Strafe gehst du
ohne Abendbrot
zu Bett, und
wenn du noch
einmal am Bach
spielst, sollst du
sehen, was es
setzt."
Heinz starrt
die Blutter mit
großen, er-
schrockenen Au-
gen an und be-
greift sie nicht.
So hat er sie
noch nie ge-
sehen, so böse.
Trotzig geht er
zu Bett, aber
als er nach ei-
ner Weile die
Blutter neben-
an nnfstöhncn
hört und schluch-
zen, da wird
sein kleines Herz
weich, und er
fühlt sich ganz
schuldbewußt.
Als gehorsamer
Junge spielt er
nie wieder am
Bach mit Schiff-
chen, aber ver-
gessen kann er
nicht, wie schön
cs war.
Blutter Ma-
ren hat in jener
Nacht kein Auge
zngethan.
Wieder ein
paar Jahre spä-
ter leiht Kan-
tors Karl dem
Heinz ein Buch,
den Robinson.
Maren, die
so ängstlich über
ihrem Knaben
wacht in dem
einen Punkt, hat
vor Büchern
keine Sorge. Zn
wenig vertrant sind ihr Bücher. Mochte Heinz lesen,
was er wollte, das könnt' ihm ja nicht schaden, ihrer
Meinung nach.
Nur einmal, als er so ganz versunken über dem
„Robinson" sitzt, fragt sie in mütterlicher Mitfrende:
„Na, mein Jung', was liest du denn für 'ne schöne
Geschichte?"
Da hebt er den Kopf, und in seinen Augen liegt
ein ganz eigener Ausdruck: „Mutter, von einem
Jungen, der heimlich zu Schiff ging, und von seinen
Abenteuern zu Wasser und zn Land - o, Mutter,
ich wollt', das Buch nähm' nimmermehr ein End'.
O, und ich wollt', ich mär' groß und könnt' das
Meer sehen und die Schiffe, all die großen schönen
Schiffe, das muß herrlich sein!"
Blutter Maren ringt nach Luft. Sie bezwingt
sich mit Gewalt und dann spricht sie scheinbar ruhig.
„Was so Kinder für thörichte Wünsche haben! Wie,
Heinz, dann müßtest du ja weit weg von Alicktern,
das willst du doch nicht."
„Nein, Blutter, das uicht, aber du könntest ja mit.
Ich macht' doch so gern."
Und wieder liegt Maren eine ganze lange Nacht
schlaflos und sinnt und sinnt, und es ist eine große

Iler lleptun- oäer peuntbruiuien in llümberg. 77)

nicht der Kleine hier im Ort
erblickt — ihr Aussehen, der
und ihre bei aller Höflichkeit

dem Hans
neben sich
Kiuderwa-
nnd selt-
klingende

2.
Die Bewoh¬
ner des zwischen
den Bergen auf
grünen Wiesen
freundlich hin¬
gelagerten Dor¬
fes im Herzen
Deutschlands,
im lieblichen
Thüringen, ha¬
ben sich nach der
ersten Verwun¬
derung etwas
beruhigt über
die blasse Frau,
die, ohne irgend
einen „Anhang"
im Ort zn ha¬
ben, sich bei
ihnen eingemie¬
tet hat, aber sie
staunen sie doch
immer noch an,
wie ein Wesen
aus einer ande¬
ren Welt, wenn
sie im Gärtchen
vor
sitzt,
den
gen,
sam
Weisen von
ihren Lippen
kommen, halb¬
laut nur, wie¬
gende Melo¬
dien, einförmig
und klagend,
ganz anders, als
die Mütter hier¬
zulande sie sin¬
gen.
Fran Maren
Andresen heißt
die Fremde, und
Witwe ist sie.
Sonst weiß man
nichts von ihr.
Aber ihr selt¬
sames Aussehen
— man hätt' sie
für des Kindes
Großmutter
halten müssen, hätt'
das Licht der Welt
fremdklingende Name
kühle Art und Weise halten ihr die Massen fern.
Erst als sie, nachdem der Winter vorüber, ein zum
Verkauf kommendes kleines Bauerngut erworben hat
und es mit Hilfe einer Magd und eines tüchtigen
Knechts fleißig versorgt, legt sich ein gewisses Miß-
trauen, und man findet sich mit der Thatsache ab,
daß eine Fremde hier haust.
Maren Andresen lebt nur ihrer Wirtschaft und
ihrem Kinde,- einem prächtigen Knaben. Wie würde
Heinz sich gesrent haben, der so fest auf einen Sohn
gehofft! Ihr wäre ein Mädchen lieber gewesen.
Eines Mädchens Geschick ist leichter zu lenken, so
meint sie. Und doch wieder fühlt sie einen freudigen
Stolz, als der Junge, der kleine Heinz, so prächtig
gedeiht, als es sich mehr und mehr heransstellt, wie
er seinem Vater gleicht Zug für Zug. Nun wird
ihr in ihm ein Abbild erwachsen, und das ist gut,
denn das Bild des Gatten, ebenso wie das ihres ersten
Mannes und die ihrer toten Söhne, ruht wohlver-
schlossen in einer großen Kiste ans dem Boden unterm
Dach. Sie sind ja alle in Seemannstracht, und ihr

Junge soll nicht wissen, niemand soll wissen, daß
sie Seeleute gewesen, daß auf dem Meer ihre Hei-
mat war.
In der großen Kiste auf dem Boden, da ruht
noch mehr. All die kleinen Geschenke, die Wilms
Sieveking und ihr jüngster ihr aus fremden Ländern
mitgebracht, und ein Schiffsmodell, welches Heinz in
jenem letzten Winter gebaut, ein allerliebstes Ding,
bis ins kleinste getreu ausgeführt. Sie hat's ver-
brennen wollen, aber sie hat's doch nicht übers Herz
bringen können, den Zeugen so vieler glücklicher
Stunden zu vernichten. Und sie allein hat den Schlüssel
zu der Kiste, ihr Junge darf nichts von dem In-

halt ahnen. Er soll heranwachsen als Kind des
Binnenlandes, er soll einst seinen Berns wählen ganz
nach seiner Neigung. Nur einer ist ausgeschlossen -
Seemann darf er nicht werden, dafür wird sie forgen.
Als Mutter hat sie Gewalt über ihren Sohn. Er
darf nicht miss Meer. Wie könnte er auch darauf
kommen, hier in dieser Abgeschiedenheit, umgeben von
Aeckern und Wiesen, von Bergen und Wäldern, und
kein Wasser weit und breit als der Mühlbach? -Nein,
sie kann ruhig seiu.
Mutter Maren erholt sich bei dem stillen, fleißigen
Leben im Besitz des sich immer prächtiger entwickelnden
Kindes nach und nach geistig und körperlich wieder.
Sie wird nicht wieder jung, die letzte Jugend hat
Heinz mitgenommen in sein nasses Grab, aber ihr
gramdurchfurchtes Gesicht wird milder, und sie lernt
noch einmal lachen mit ihrem Jungen, mit dem letzten
Glück, das ihr ein hartes Geschick gelassen hat.
Sie läßt dem Kleinen so viel Freiheit als möglich.
Aengstliche Sorge um die Gesundheit ist ihr, der
am Meer Ausgewachsenen, fremd.
Nur in einem läßt sic den Jungen nicht gewähren.
Als er eines Tages heimkommt vom Spiel, mit
glühenden Wangen, die blonden Locken vom Wind
 
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